So weit die Wolken ziehen
überrascht an und bat: »Darf Esther mir Belsazar vorlesen?«
»Nein«, sagte Frau Salm bestimmt. Sie setzte sich stattdessen ans Klavier und schlug heftig in die Tasten.
Zum Fürchten, dachte Ruth.
Aber dann wurde das Spiel ruhiger und verklang schließlich ganz leise. Frau Salm blieb, von den Kindern abgewandt, auf ihrem Klavierhocker sitzen und sprach die Ballade von der ersten bis zur letzten Strophe. Als sie mit den Zeilen schloss: »Belsazar ward aber in selbiger Nacht von seinen Knechten umgebracht«, bekam Ruth eine Gänsehaut.
»Schaurig und schön«, sagte sie. »Und warum steht das nicht in unserem Lesebuch?«
»Diese Ballade gehört zu den im Deutschen Reich verbotenen Werken«, erklärte Esther. »Der Dichter heißt …«
Frau Salm drehte sich den Kindern zu und sagte in strengem Ton: »Schluss jetzt, Esther! Verboten ist verboten. Du sollst seinen Namen nicht erwähnen, hörst du?«
Ruth getraute sich nicht, weiter zu fragen. Nach dem Abendessen sprach sie ihre Tante an: »Kennst du den …«
»Bitte, Ruth!«, mahnte Frau Brüggen.
Ruth berichtigte sich: »Kennen Sie die Ballade Belsazar, Frau Brüggen?«
»Jede Deutschlehrerin kennt viele Balladen«, antwortete Frau Brüggen ausweichend. Als Ruth sich damit offenbar nicht zufriedengab und sie trotzig anschaute, seufzte sie auf und fügte hinzu: »Belsazar stammt von Heinrich Heine.«
»Und? Warum steht der Text nicht in unserem Lesebuch?«
»Heinrich Heine war Jude. Seine Bücher sind verboten und verbrannt worden.«
»Aber …«
Frau Brüggen fuhr ihre Nichte heftig an: »Kein Aber mehr, Ruth. Vergiss Belsazar und alles, was du darüber gehört hast. Verstanden?«
Ruth nickte. »Gehört wohl, verstanden aber nicht«, flüsterte sie.
Lutka war schon mehrere Tage im Quellenhof. Es ging ihr ein wenig besser, sie konnte aber noch nicht aufstehen. Meist lag sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Lager. Immerhin konnte sie schon Kartoffelbrei und dünne Milchsuppe bei sich behalten. Wenn Frau Zitzelshauser ins Zimmer kam, zuckte sie jedes Mal zusammen und begann zu zittern. Noch hatte sie kaum ein deutsches Wort gesprochen und auf Fragen nicht geantwortet. Stattdessen murmelte sie oft in ihrer Muttersprache etwas vor sich hin.
Schwester Nora wartete stets, bis es am Abend ruhig im Haus geworden war, bevor sie zuerst in die Küche ging und dann gemeinsam mit Frau Zitzelshauser nach Lutka sah. Es hatte eine stille Übereinkunft zwischen ihr und der Hauswirtin gegeben, dass vorerst kein Arzt gerufen werden sollte.
»Wie soll das nur enden?«, fragte Schwester Nora.
Frau Zitzelshauser antwortete: »Wer kann das wissen? Jedenfalls werde ich Lutka erst einmal aufpäppeln. Dann sehen wir weiter.«
»Wenn sie doch wenigstens erzählen könnte, wie sie hierhergekommen ist«, sagte die Schwester.
»Polnisch müsste man können, Schwester Nora. Lutka weigert sich, Deutsch zu sprechen.«
»Die Anna Mohrmann, Frau Zitzelshauser! Erinnern Sie sich nicht daran, dass das Mädchen ein wenig Polnisch sprechen kann?«
»Und ob ich mich erinnere.« Frau Zitzelshauser starrte zu Boden. »Sie glauben nicht, wie schwer es mir auf der Seele liegt, dass ich damals nicht für Lutka eingetreten bin. Nicht mal ihren Mantel hab ich ihr geben können. Ich sehe das alles vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Als es Lutka verboten wurde, mit dem Piloten polnisch zu reden. Wie wütend sie dann geworden ist und Frau Lötsche beschimpft hat. Als ich nur dabeigestanden bin. Weggeschafft hat man sie. An jenem Abend habe ich in meinem Bett geheult, weil ich nur zugesehen habe. Auch als ich Pater Lukas alles gebeichtet hatte und er mir die Lossprechung nicht verweigert hat, bin ich nicht ruhiger geworden. Manchmal, Schwester Nora, schrecke ich nachts aus schweren Träumen auf, Träume, die mit Lutka zu tun haben.«
»Ach, Frau Zitzelshauser, Sie waren es doch nicht, die die Polizei gerufen hat.«
»Das nicht. Aber zugeschaut hab ich, wie sie weggeführt worden ist. Zugeschaut und den Mund nicht aufgemacht. Dabei kenne ich den Ortsgruppenleiter im Dorf. Bin als Kind mit ihm zur Schule gegangen. Hätt ihn nur anrufen müssen. Ist gar nicht so ein übler Kerl. Vielleicht hätt er die Meldung von Aumann unter den Tisch fallen lassen. Aber ich hab nur zugeschaut und nichts für Lutka getan.«
»Sehen wir alle nicht immer nur zu, Frau Zitzelshauser?«
Unvermittelt fragte Frau Zitzelshauser: »Schwester Nora, sind S’ einverstanden, wenn ich Sie einfach Nora nenn?«
Die
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