So weit die Wolken ziehen
Schwester war überrascht und sagte einen Augenblick lang nichts.
»Ich bin die Afra«, fuhr Frau Zitzelshauser fort und hielt der Schwester die Hand hin. Schwester Nora schlug ein und sagte dann: »Sehr gern, Afra. Damit es kein Gerede gibt und nicht ein paar Neunmalkluge meinen, wir würden unter einer Decke stecken, soll es aber beim Sie bleiben.«
Frau Zitzelshauser kicherte und sagte: »Nora, ist es nicht schon seit ein paar Tagen so, dass sie über uns reden?«
»Ja, Afra. Aber was ist nun, sollen wir die Anna jetzt herbitten?«
»Wird sie den Mund halten können und nichts von dem ausplaudern, was sie hier sieht und hört?«
»Sie ist ein zuverlässiges Mädchen. Wenn ich ihr das Versprechen abnehme, zu schweigen wie ein Grab, dann wird sie sich daran halten.«
»Nora, lassen Sie uns noch ein, zwei Tage warten. Wenn Lutkas Zunge sich dann immer noch nicht gelöst hat, weihen wir die Anna ein.«
Dr. Scholten wurde immer öfter zum Volkssturm befohlen, gegen Ende des Monats fast jeden Tag. Wieder flammte das Gerücht von dem geheimen Stollen auf, in den die Mädchen fliehen könnten, wenn die Front näher rücken sollte.
»Das haben einige von euch schon vorigen Monat gesagt«, meinte Lydia. »Und was kam heraus? Der Eisenbahntunnel musste frei geschaufelt werden.«
»Aber diesmal ist es anders. Ich habe so eine Ahnung …«, orakelte Gerda.
»Ich weiß es besser.« Lydia schien sich ganz sicher zu sein. »Mehrmals am Tag donnern Flugzeuge durch das Tal. Vorgestern haben wir ganz deutlich Explosionen gehört und ein Beben unter den Füßen gespürt. Die Bomben sind bestimmt nicht weit von hier abgeworfen worden. Ich wette mit euch, der Tunnel ist beschädigt. Habt ihr nicht bemerkt, dass seit vorgestern keine Zuggeräusche mehr zu hören sind?«
»Was du oft hörst, das hörst du irgendwann gar nicht mehr«, sagte Irmgard.
»Ich habe darauf geachtet. Kein einziger Zug ist vorbeigefahren. Kein Pfeifsignal vor der Einfahrt in den Tunnel. Der Volkssturm muss den Schaden beheben. Was sollen die Männer denn sonst machen? Das mit dem Versteck für uns ist doch Unsinn.«
Irmgard schlug vor: »Wir wetten mit dir, Lydia, dass wir recht haben. Es gibt den Fluchtstollen. Was machst du, wenn du verlierst?«
»Jede von euch bekommt dann einmal beim Frühstück meine Marmelade.«
»Dann wirst du dein Brot eine ganze Woche lang trocken essen?«
»Das wird nicht nötig sein. Es gibt keinen Stollen. Ich werde die Wette gegen euch alle gewinnen. Und dann bekomme ich am nächsten Morgen von allen eure Marmelade. Abgemacht?«
Die Mädchen stimmten zu.
»Aber wie erfahren wir, wo Dr. Scholten schon die ganze Zeit eingesetzt wird?«, fragte Irmgard. »Er wird uns nichts verraten und unsere Freizeit ist zu kurz für den Weg zum Stollen und zurück.«
»Wozu hast du deine Schwester, Irmgard?«, sagte Lydia. »Die ist doch jeden Mittwoch bei Esther Salm und hat dann Zeit genug, auf Skiern hinzufahren. Wenn ich recht habe, gebe ich Ruth die Hälfte von meinem Gewinn ab.«
»Ich werde sie fragen«, stimmte Irmgard zu.
Gleich am Nachmittag weihte Irmgard ihre Schwester in die Wette ein und drängte sie: »Wenn du am Mittwoch zu Salms gehst, kannst du doch mal nachschauen, ob der Volkssturm am Tunnel arbeitet oder vielleicht doch einen geheimen Stollen in den Berg treibt.«
»Und was habe ich davon?«
»Wenn wir die Wette verlieren, wird Lydia dir von der Marmelade, die sie von uns bekommt, die Hälfte abgeben. Wenn wir gewinnen und es gibt den Fluchtstollen, bekommst du meinen Anteil an der Marmelade von Lydia. Einverstanden?«
»Nur wenn Esther mitfährt.«
»Na klar.«
»Die wird aber nur mitfahren, wenn sie auch etwas davon hat.«
»Marmelade?«
»Nein. Esther frühstückt zu Hause.«
»Ich habe von Weihnachten immer noch eine echte Praline aufbewahrt. Eigentlich wollte ich sie mir als Belohnung gönnen, wenn ich endlich mal wieder eine Eins schreibe. Aber daraus ist bis jetzt noch nichts geworden. Die kannst du der Esther anbieten. Ganz gleich, wer gewinnt, wenn sie dich begleitet, bekommt sie die Praline.«
»Dir scheint ja viel an der Wette zu liegen, Irmgard«, sagte Ruth. »Ich werde Esther fragen.«
Frau Salm lachte, als sie davon hörte. »Das sind merkwürdige Zeiten, in denen eine einzige Praline schon ein besonderer Preis ist. Früher haben wir immer Pralinen naschen können, wenn uns der Sinn danach stand.«
Dann aber kamen ihr doch Bedenken, die Mädchen losfahren zu lassen. Sicher, der
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