So weit die Wolken ziehen
Sie. Schließlich bin ich ja nicht mehr die Jüngste.«
»Und Sie meinen, dort könnten wir Lutka unterbringen?«
»Bis morgen bestimmt«, antwortete die Hauswirtin. Sie legte einen Finger über den Mund der Schwester: »Und zu niemandem ein Wort. Morgen werden wir weitersehen.«
»Wir werden wohl gleich morgen in der Frühe den Arzt holen müssen«, sagte Schwester Nora.
»Dann können wir sie auch gleich von der Polizei wegbringen lassen«, widersprach Frau Zitzelshauser.
»Wenn Sie das Risiko auf sich nehmen wollen, ich werde Sie nicht dran hindern. Aber jetzt bringen wir Lutka erst mal in Ihr Zimmer.«
Schwester Nora schaute sich im Flur um. Um diese Zeit war nicht zu befürchten, dass dort noch jemand herumstrich.
Sie zogen Lutka die Kleider aus.
»Nur noch Haut und Knochen«, flüsterte Frau Zitzelshauser. »Ein Wunder, dass in diesem Häufchen Elend noch ein Lebensfunke glimmt.«
In den vergangenen Wochen war Ruth jeden Mittwoch zu Esther gegangen. Sie genoss dort im Haus am Hang die ruhigen Stunden. Frau Salm erkundigte sich regelmäßig nach dem Unterricht im Quellenhof. Besonders der Stoff der Deutschstunden interessierte sie. Als sie Ruth wieder einmal danach fragte, sagte Esther ungehalten: »Ich habe es dir doch schon erzählt, Mutter. In den letzten vierzehn Tagen hatten wir Deutsch gemeinsam mit der ersten Klasse. Es wird nur über Balladen gesprochen. Das ewige Rumwühlen in den Texten gefällt uns nicht.«
Ruth nickte, fügte aber dann hinzu: »Das Schönste daran ist, dass Frau Brüggen uns am Anfang die ganze Ballade vorträgt.«
»Auswendig?«, fragte Frau Salm.
»So ziemlich. Sie hält zwar das Buch aufgeschlagen in der Hand, aber sie schaut nur ganz selten hinein. Und das ist spannend. Es ist so, als wäre man selbst dabei.«
»Wobei zum Beispiel?«
»Vorgestern hat sie Die Kraniche des Ibykus gelesen, eine lange Ballade. Aber keiner in der Klasse hat einen Mucks von sich gegeben.«
»Aber was dann kommt«, warf Esther ein und hob die Hände, als müsste sie etwas abwehren. »Endloses Gerede, warum, wieso, was hätte auch geschehen können, was will uns der Text sagen und so weiter.«
»Trotzdem, Esther. Ich finde es gut, dass wir am Ende des Monats nur eine einzige Ballade auswendig können müssen. Wir dürfen uns selbst aussuchen, welche wir vortragen wollen.«
»Hast du schon eine gefunden, die du aufsagen willst, Ruth?«, fragte Frau Salm.
»Ich werde wahrscheinlich Die Frauen von Nidden nehmen. Ist von Agnes Miegel. Kann ich nämlich schon auswendig.«
»Klar«, spottete Esther. »Gehört ja auch zu den kürzesten.«
»Nicht deswegen. Aber die Ballade endet so traurig.« Sie sagte die letzten Strophen auf:
» ›Gott vergaß uns, er ließ uns verderben.
Sein verödetes Haus sollst Du erben,
Kreuz und Bibel zum Spielzeug haben,
Nur, Mütterchen, komm, uns zu begraben!
Schlage uns still ins Leichentuch,
Du unser Segen, einst unser Fluch.
Sieh, wir liegen und warten ganz mit Ruh‹
Und die Düne kam und deckte sie zu.« . . .
Ruth hatte langsam und ein wenig monoton gesprochen. Frau Salm sagte: »Du triffst den Ton sehr gut, Kind. Aber Agnes Miegel?« Sie zögerte, sagte aber dann doch: »Vielleicht hast du eine Autorin gewählt, die man heute gern hört. Die Miegel passt sich dieser Zeit gut an.« Es klang ein wenig spöttisch.
Esther räusperte sich. »Stimmt, Mama. Das ist genau wie heute. Ich meine das, was uns vielleicht bevorsteht.«
»Hier gibt’s keine Dünen«, widersprach Ruth. »An der Küste in Ostpreußen spielt das.«
Frau Salm gab Esther ein Zeichen zu schweigen.
»Und du, Esther, was wirst du vortragen?«, fragte Ruth.
»Ich wähle einen ganz langen Text von Schiller, Die Bürgschaft. Vor den vielen Strophen mache ich mich nicht bange.«
»Und warum gerade diese Ballade?«, fragte ihre Mutter.
»Wegen der ersten Zeilen. Die sind so schön grausig.
»Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande.«
»Spannend ist die Geschichte ja«, gab Ruth zu. »Aber so endlos viel auswendig vortragen?«
»Eigentlich wollte ich lieber Belsazar lernen.«
»Belsazar? Steht das auch in unserem Lesebuch?«, fragte Ruth unsicher.
»Nein«, sagte Esther. » Belsazar steht in einem Buch bei uns im Bücherregal. Aber meine Mutter …«
»Bitte, lass mich aus dem Spiel, Kind.«
»Es geht um einen König, der eine geheimnisvolle Schrift an der Wand sieht«, sagte Esther eifrig.
»Jetzt ist es genug, Esther«, mahnte Frau Salm.
Ruth sah sie
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