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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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hatten in unserer Gärtnerei manchmal Saisonarbeiter aus Polen. Sie kamen und gingen. Ihre Familien hatten sie in ihrer Heimat zurückgelassen. Meine Schwester und ich erinnerten sie wohl an ihre eigenen Kinder. Lydia hatte Angst vor ihnen, aber ich fühlte mich zu ihnen hingezogen. Manchmal erlaubte mir meine Mutter sogar, dass ich am Sonntag mit ihnen zu einem Gottesdienst in polnischer Sprache ging. Und wenn die Männer abends nach Feierabend zusammensaßen, sangen sie oft ihre Lieder. Die klangen meist traurig und voller Sehnsucht nach ihrem Land. Da habe ich manches aufgeschnappt.«
    »Und das hat zum Sprechen gereicht?«
    »Nein«, sagte Anna. »Es gab noch jemanden, der mich dazu gebracht hat, die Sprache besser zu lernen.«
    »Auch ein Pole?«
    »Nein. Aber jetzt müssen Sie mir versprechen, über das zu schweigen, was ich Ihnen erzähle.«
    »Gemacht.«
    »Mein Vater hat als Gärtnergeselle eine Zeit lang in der Nähe von Münster gearbeitet. Er war Mitglied in einer Wandergruppe der Katholischen Jugend. Dort hat er einen Jungen kennengelernt, der ganz wild darauf war, Russisch und Polnisch zu lernen. Er wollte Missionar in Russland werden. Irgendwann hat mein Vater ihn aus den Augen verloren. Der Mann hieß Bernhard Poether. Er ist Kaplan geworden und soll sogar in Polen studiert haben. Nach Russland, wohin er ja eigentlich wollte, haben sie ihn nicht gelassen. Aber das hat mein Vater erst später erfahren. Kaplan Poether ist Mitte der Dreißigerjahre nach Gladbeck geschickt worden. Ich war gerade in die zweite Klasse gekommen und durfte meine Ferien bei meiner Tante in Gladbeck verbringen. Tante Alwine war dort Lehrerin und hatte ja auch Ferien. Da ist mir Kaplan Poether begegnet. Mein Vater kam am Geburtstag meiner Tante zu Besuch. Es war ein Sonntag. Da schellte es. Der Kaplan gratulierte meiner Tante. Mein Vater hat ihn sofort wiedererkannt. Eigentlich wollte mein Vater gleich nach dem Kaffeetrinken wieder nach Hause, aber daraus wurde nichts. Sie saßen noch stundenlang zusammen und haben erzählt, wie es ihnen ergangen ist. Kaplan Poether hatte immer noch mit der Jugendarbeit zu tun, aber er kümmerte sich auch um die Menschen, die aus Polen kamen. Er konnte gut Polnisch. Das kann unsere Anna auch, hat mein Vater im Scherz gesagt. Ich musste dem Kaplan ein paar einfache Fragen in Polnisch beantworten. Er hat sich gefreut, dass ich das einigermaßen hingekriegt habe, und hat mich eingeladen, ihn zu besuchen. Er wollte sich wohl einen Spaß daraus machen, mir das Polnische etwas besser beizubringen. Ich bin oft zu ihm gegangen. Zum Abschied hat er mir ein Buch geschenkt. Erste Schritte in die polnische Sprache hieß es. Ich konnte damals noch nicht flüssig lesen. Aber später habe ich oft versucht, damit zu arbeiten.«
    »Das ist doch eine schöne Geschichte. Warum soll ich die nicht weitererzählen?«
    »Später, kurz vor dem Krieg, wurde Kaplan Poether nach Bottrop versetzt. Dort leben viele Arbeiter, die aus Polen eingewandert sind. Um die hat er sich besonders kümmern sollen. Aber dann marschierten unsere Soldaten in Polen ein. Plötzlich hat man gesagt, viele von den polnischen Arbeitern gehörten zu unseren Feinden. Mein Vater hat uns erzählt, dass Bernhard Poether protestiert hat, als neun Männer aus einem polnischen Verein verhaftet worden sind. Er wurde deswegen streng verwarnt. Als er aber nicht aufhörte, die polnischen Katholiken zu betreuen, ist er verhaftet worden. Seine Haushälterin hat meinem Vater erzählt, dass der Kaplan in einem Lager die Ruhr bekommen hat. Trotzdem musste er mit einem Arbeitskommando jeden Morgen losziehen. Anfang August 1942 ist er umgekommen. Man hat die Leiche verbrannt. Die Asche ist der Familie zugeschickt worden.«
    »Das ist kaum zu glauben, Anna. Woher wusste die Haushälterin das alles?«
    »Sie hat meinem Vater im Geheimen anvertraut, dass sie einen Aufseher im Bottroper Gefängnis kennt. Der hat es ihr gesagt. Und ich habe gehört, wie mein Vater das alles meiner Mutter erzählt hat.«
    »Schwester Nora seufzte. »Aber weswegen haben Sie mich nun rufen lassen«, fragte Anna. »Die Lutka …« Schwester Nora schaute Anna lange an, fuhr dann aber fort: »Die Lutka ist zurückgekommen. Frau Zitzelshauser hat sie bei sich im Zimmer versteckt. Dem Mädchen geht es sehr schlecht. Das weiß aber nur ich. Niemand sonst darf etwas darüber erfahren. Niemand, hörst du?«
    Anna nickte.
    »Das Merkwürdige ist nur, Lutka spricht kein einziges Wort Deutsch. Frau

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