So weit die Wolken ziehen
zumute.«
»Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen, Nora?«
»Unsinn. Aber Königsberg ist von den Russen eingeschlossen worden und soll als Festung verteidigt werden.«
»Was ist daran falsch?«
»Die schöne Stadt!«, rief sie. »Nicht lange und sie wird ein einziger Trümmerhaufen sein.«
»Dann unterscheidet sie sich nicht vom Ruhrgebiet. Oder?«
»Ich bin in Ostpreußen geboren und habe dort meine Kindheit verbracht. In Königsberg bin ich aufs Lyzeum gegangen. Wundert’s dich, dass mir das Lachen vergangen ist?«
Mitte Februar klopfte es spätabends zaghaft an die Tür, die von der Küche nach hinten auf die Terrasse führte. Die Ukrainerinnen waren in ihre Kammer gegangen. Von halb sechs am Morgen bis abends gegen acht, das war ein langer Tag für sie. Frau Zitzelshauser überhörte das leise Pochen. Sie saß noch am Küchentisch und überlegte, was sie bis zum Ende der Woche auf den Tisch bringen konnte. Die Vorräte schmolzen von Tag zu Tag mehr zusammen. Sie ging in die Vorratskammer und starrte den halben Sack voller Graupen an. Zweimal hatte sie in den letzten Tagen Graupensuppe gekocht. Kein Fleisch und wenig Fett. Sie verstand die Mädchen gut, die ein langes Gesicht gezogen hatten. »Nein«, sagte sie entschlossen. »Nicht schon wieder diese Kälberzähne.«
Wieder klopfte es. Diesmal etwas kräftiger. Frau Zitzelshauser ging zur Tür und drehte den Schlüssel um.
»Wer ist da draußen?«, fragte sie.
Keine Antwort, nur ein Geräusch, als schleife etwas an dem Holzrahmen entlang. Frau Zitzelshauser legte die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür vorsichtig einen Spaltbreit. Zuerst sah sie niemanden, aber als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie eine zusammengesunkene Gestalt auf der Schwelle. Hastig löste sie die Kette und riss die Tür auf. Da lag ein Mensch, eine Frau. Sie rührte sich nicht. Frau Zitzelshauser griff ihr unter die Achseln und zog sie ins Licht. Dann schloss sie die Tür wieder und schob den Riegel vor. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihr Kopf war kraftlos zur Seite gesunken. Frau Zitzelshauser entschloss sich, zu Schwester Nora zu gehen und sie um Hilfe zu bitten. Die Schwester war schon zu Bett gegangen, streifte aber hastig ihren Trainingsanzug über, griff nach ihrer Erste-Hilfe-Tasche und eilte mit der Hauswirtin in die Küche.
Die Frau hatte inzwischen die Augen aufgeschlagen und sich halb aufgerichtet. Sie lehnte ihren Rücken gegen die geflieste Wand. »Nicht wegschicken«, sagte sie.
An dem Akzent erkannte Frau Zitzelshauser die Jammergestalt, die da ausgezehrt und mit starrem Blick vor ihr auf dem Boden hockte.
»Lutka?«, fragte sie unsicher.
»Kennen Sie die Frau?«, fragte Schwester Nora.
»Ja. Das Polenmädchen. Lutka haben sie vor über einem Jahr weggebracht. Ein Flugzeug war abgeschossen worden. Der Pilot hat sich mit dem Fallschirm retten können und ist direkt vor unserem Haus gelandet.«
»Davon habe ich gehört«, sagte Schwester Nora.
»Wir haben uns alle gewundert, weil er nicht englisch gesprochen hat, sondern polnisch. Anna Mohrmann kann ja ein paar Brocken Polnisch und hat einige Worte mit ihm gewechselt. Aber dann haben wir Lutka gerufen. Frau Lötsche wollte ihr verbieten, mit dem Piloten zu reden. Lutka war damals völlig außer sich und hat Frau Lötsche beschimpft. Der Herr Direktor hat das weitergemeldet. Lutka wurde noch am selben Abend abgeführt.«
Frau Zitzelshauser rückte den Holzsessel zurecht. Zu zweit halfen sie der jungen Frau auf. Sie brauchten sich nicht sonderlich anzustrengen.
»Sie wiegt bestimmt keine vierzig Kilo. Ich habe noch etwas klare Brühe. Die werden wir Lutka doch geben können, oder?«
Schwester Nora stimmte zu. Vorsichtig flößten sie Lutka ein wenig davon ein.
»Sie ist völlig ausgehungert, Frau Zitzelshauser. Ich habe so etwas noch nicht gesehen. In der Ausbildung hat man uns gewarnt, Menschen, die lange nichts gegessen haben, gleich vollzustopfen. Langsam, ganz langsam müssen sie wieder an Nahrung gewöhnt werden. Sonst behalten sie nichts bei sich.«
»Wie steht es mit Getränken, Schwester?«
»Ein schwacher Tee ist immer gut.«
Sofort legte Frau Zitzelshauser neue Holzscheite auf die Glut und kochte Wasser für den Tee. Lutka sank im Sessel zusammen.
»Was machen wir nur mit ihr?«, fragte Schwester Nora.
»Mein Zimmer liegt gleich um die Ecke. Außer meinem Bett steht noch eine Liege drin. An den Sonntagen erlaube ich mir ein Mittagsschläfchen, wissen
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