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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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der größte Schwarzseher. Er müsste Sie kennenlernen, dann wüsste er es besser.«
    Frau Zitzelshauser goss der Fahrerin und auch Dr. Scholten einen großen Schnaps ein.
    »Trinken wir auf den Endsieg«, sagte die Fahrerin. Sie kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. »Fragt sich nur, Sieg für wen.«
    Sie startete den Wagen so wild, dass der Schneematsch aufspritzte.
    Dr. Scholten brachte den Plan für die Rückführung umgehend zum Direktor. »Erst auf Befehl darf der Umschlag geöffnet werden. Das Losungswort heißt Waldameise«, sagte er.
    »Gut, dass Sie kommen.« Aumann setzte sich hinter seinen Schreibtisch und deutete auf einen Stuhl. »Ich möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen. Es wird sich wohl kaum noch umgehen lassen, dass wir den Quellenhof verlassen. Ich möchte Ihnen, lieber Herr Doktor, die Leitung der ganzen Angelegenheit übertragen.«
    »Wieso, Herr Aumann? Sie sind doch der Direktor.«
    »Schon, schon. Aber ich habe nicht die Absicht, das Feld zu räumen.«
    »Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen hierbleiben, auch wenn die Russen kommen?«
    »Ja, ich bleibe hier.«
    »Aber wieso?«
    »Sie wissen, ich bin ein eingefleischter Junggeselle. Niemand wartet auf mich in Oberhausen oder sonst wo. Ich werde die Unterlagen unserer Schule ordnungsgemäß dem Besatzungskommandanten übergeben. Dies ist ein gut verwalteter Betrieb. Das hat die Parteiführung stets gewürdigt. Und das werden auch die Sowjets anerkennen müssen. Die Akten, das Kassenbuch, die gesamten Unterlagen, die Statistiken. Soll ich meine ganze sorgfältige Arbeit einfach zurücklassen? Das kann ich nicht und das will ich auch nicht. Ich werde nicht einfach weglaufen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis für meine Haltung. Pflichterfüllung ist für mich ein Leben lang eine Selbstverständlichkeit gewesen. Und dabei soll es auch bleiben.«
    Dr. Scholten wollte schon sagen, dass er das große Hitlerfoto dann aber wohl gegen ein Stalinbild austauschen müsse, aber er schluckte die Bemerkung hinunter. Nicht, dass er irgendetwas an Aumanns Entschluss gutgeheißen hätte, aber er empfand doch ein wenig Respekt vor dem Direktor, der bis zur Verrücktheit seinen Prinzipien treu blieb.
    »Das müssen Sie mir schriftlich geben«, sagte er.
    »Selbstverständlich. Vorerst nehmen Sie den Plan der Rückführung wieder an sich. Ich setze Sie sofort in Kenntnis, wenn das Stichwort Waldameise genannt wird.«
    Dr. Scholten wollte sich schon verabschieden, da sagte der Direktor: »Es gibt noch eine überraschende Neuigkeit, Herr Kollege. Herr Dr. Matheck hat uns verlassen.«
    »Heimlich?«
    »Nein, nein, Dr. Scholten. Er hat sich freiwillig zum Volkssturm gemeldet.«
    »Und der alte Mann ist tatsächlich genommen worden?«
    Herr Aumann lachte auf. »Der alte Mann war im letzten Krieg ein hochdekorierter Major. Er wird eine größere Einheit des Volkssturms führen.«
    Dr. Scholten verschlug es die Sprache.
    Herr Aumann versicherte: »Er hat mir die Unterlagen gezeigt. Ich war so verblüfft, dass ich aufgesprungen bin und die Hacken zusammengeschlagen habe. Er hat gelacht und gesagt: Nicht nötig, Herr Direktor. Dann hat er sich verabschiedet und gebeten, ich solle dem Kollegium und den Schülerinnen die Nachricht erst weitergeben, wenn er weit genug weg ist.«
    »Mit solchen Männern können wir den Krieg nicht verlieren«, sagte Frau Lötsche, als sie davon erfuhr.
    Schwester Nora murmelte: »Alter schützt vor Torheit nicht.«
    Anna war aufgeregt. Schwester Nora hatte ihr mitgeteilt, dass man sie am Abend zu Lutka holen würde. »Aber wenn ich merke, dass Lutka das nicht will, musst du wieder verschwinden, Anna.«
    Endlich war es so weit. Die Schwester ging vor ihr in das Zimmer. Frau Zitzelshauser saß in ihrem hölzernen Lehnstuhl. Lutka hatte Kissenpolster in Rücken und Nacken, sodass sie mehr saß als lag. Zwischen ihrer Liege und Frau Zitzelshausers Lehnstuhl stand eine Stehlampe mit einem gelblichen Pergamentschirm, die ein mildes Licht verbreitete. Die Tür lag im Halbdunkel. So kam es, dass Lutka Anna erst bemerkte, als sie auf ein Wort der Hauswirtin hin den Schlüssel von innen im Schloss drehte. Lutka fuhr zusammen. Anna sagte auf Polnisch: »Dobry wieczór.« Guten Abend, wie sie es mit der Schwester abgesprochen hatte. Lutka starrte sie an. Ihr Gesicht war wie versteinert. Aber dann schien sie sich an Anna zu erinnern. Ihre Züge wurden weicher und der Schrecken auf ihrem Gesicht verschwand. Überrascht hörten sie, wie Lutka den

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