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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Gruß erwiderte, aber nicht in ihrer Muttersprache. Zum ersten Mal, seit sie wieder im Quellenhof war, sagte sie auf Deutsch: »Guten Abend, Anna.«
    Die Rollen waren seltsam vertauscht. Anna sprach polnisch, Lutka deutsch. Noch waren es nur Floskeln. »Wie geht es dir? … Schön, dass du bei uns bist … Ja, ich bin gesund … Mir geht es besser. Mamunia verwöhnt mich.«
    Mamunia, Mütterchen? Anna fand, dass der Name für Frau Zitzelshauser sehr gut passte.
    »Du warst lange weg, Lutka.«
    »Ja, aber nicht mehr fragen. Vielleicht ich kann später …« Sie strich mit einem Finger über eine Tätowierung an ihrem Unterarm.
    Wie dünn die Arme sind, wie knochig die Finger, dachte Anna. »Wir freuen uns alle, dass du wieder hergefunden hast.«
    »Weiter Weg«, sagte sie.
    »Wie lange warst du unterwegs?«
    »Weiß nicht. Zwei Wochen? Vier Wochen? Bin nur gegangen, wenn Nacht.«
    »Und am Tag?«
    »Versteckt in Scheunen. In kaputten Häusern. In Wald.«
    »Schlimm.«
    »Noch schlimmer, wenig essen und trinken. Manche haben mir gegeben, andere haben mich weggejagt und Wörter nachgerufen.«
    »Aber du hast uns gefunden.«
    »Als ich Kind war, ich hatte kleinen schwarzen Hund. Weißt du, wo Ratten jagt.«
    »Terrier«, warf Frau Zitzelshauser ein.
    »Terrier?«, fragte Lutka. »Ja, war Terrier. Hat laut gebellt und gebissen. Hab ich ihm Namen Pilsudski gegeben. War strenger Präsident in Polen. Aber dann war Krieg gegen Deutschland verloren. Hatte ich Angst, Hundchen Pilsudski zu rufen. War vielleicht gefährlich. Hab ihn dann getauft auf anderen Namen. Hab Goebbels zu ihm gesagt. Sind auch viele Menschen in Polen damals umgetauft worden . Nachbar von uns hieß eigentlich Szwergewski. Deutsche haben ihn in Amt geholt. Sollte eingedeutscht werden. Hat dann geheißen Zwergerhoff.Zum ersten Mal lächelte Lutka. »Hundchen war mager, klein und frech. Hatte schwarze Haare. Alles genau wie Herr Minister. Manchmal hinkte Hundchen sogar, wenn er hat großen Hund angefallen. Ich hatte lieb das Tier. Durfte schlafen in Bett bei mir. Aber nur, wenn er nicht hatte in Fell Flöhe.«
    »Wir hatten zu Hause auch einen Hund«, erzählte Anna. »Er war so groß wie ein Kalb. Eine Deutsche Dogge. Er sah gefährlich aus, war aber ganz friedlich. Nie ist in unserer Gärtnerei eingebrochen worden, so lange wir Sultan hatten. Aber große Hunde leben nicht lange. Sultan war genauso alt wie ich. Als ich mit zehn in die Oberschule kam, ist er gestorben.«
    »Goebbels war schlaues Tier. Konnte zehn Kunststücke oder mehr. Kam Zirkus zu uns in Dorf im Sommer. Zirkus zog weiter. Goebbels weg. Überall hab ich gesucht. War traurig. Musste immer denken an Goebbels. Wirst vergessen, hat meine Mamunia gesagt. Hat mir genäht Hund aus Samt. Schwarze Augen waren Knöpfe. Hab mitgenommen in Bett. Aber war nicht lebendig. Hab ich auf Schrank gestellt. Jeden Abend hab ich gebetet: Jesus, bring mein Hundchen wieder zurück. Drei Tage vor Weihnachten hat an Tür gekratzt. Goebbels. Mager wie Hering. Fell schlackerte um Knochen. Hab geweint. Mamunia, Papa, Marian, Stanek, Goebbels wieder da. Hab geschrien ganz laut. Hab noch mehr lieb gehabt. An Hund hab immer gedacht, wenn unterwegs. Was Hund kann, kann Lutka auch. Wenn gar nicht mehr ging, hab gerufen: Goebbels, Goebbels. Dann ging wieder bisschen besser. Und jetzt Lutka wieder da.«
    Sie sank erschöpft in ihre Kissen zurück. Aber sie lächelte.
    An den folgenden Abenden erzählte sie, dass das Lager, in dem sie gewesen war, aufgelöst worden sei, als die russischen Truppen näher kamen. Hunderte, viele Hunderte hatten marschieren müssen, immerzu marschieren, in einem endlos langen Zug, immer nach Westen, dahin, wo die Sonne untergeht. Viele wären zusammengebrochen und am Straßenrand gestorben. Manchmal hätten die Wachen auch nachgeholfen. Sie habe an Goebbels denken müssen und auf einen günstigen Augenblick gewartet, um zu fliehen. Eines Tages wäre es so weit gewesen. Sie mussten ein Bahngleis überqueren. Sie gehörte zu den Letzten, die vor dem Zug hinüberkamen. Einige Wachsoldaten seien zurückgeblieben, die anderen weit vorn. Der Güterzug wäre endlos lang gewesen und nur langsam gefahren. Während die Gefangenen der Landstraße nach rechts folgten, konnte sie nach links tief in einen Fichtenwald rennen, bis sie wie tot zusammengebrochen sei. Als sie wieder zu sich gekommen sei, habe ein Junge neben ihr gesessen, vielleicht zehn Jahre alt. Er habe sein Brot mit ihr geteilt und ihr zu

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