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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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trinken gegeben. Er wollte sie mit zu sich nach Hause nehmen, aber sie hätte viel zu viel Angst gehabt. Wie sie ins Dorf gekommen sei und wie in den Quellenhof, daran könne sie sich nicht erinnern. Aber ohne das Vorbild ihres Hundes hätte sie es nie geschafft.
    Mehrmals fragte Anna auch nach dem Lager. Aber dann presste Lutka ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und antwortete nicht.
    In der Stube wunderten sich die Mädchen, dass Anna am Abend oft so lange ausblieb. Anna redete nicht darüber. Schließlich wuchs die Neugier. Eines Abends schlich Irmgard hinter ihr her. Sie sah, dass Anna in Frau Zitzelshausers Zimmer verschwand, hörte aber auch, dass die Tür von innen abgeschlossen wurde.
    »Meine Schwester hat eine schöne Schrift«, sagte Lydia. »Vielleicht muss sie für Frau Zitzelshauser etwas Schriftliches erledigen.«
    Die Mädchen gaben sich schließlich damit zufrieden.
    In der nächsten Dienstbesprechung teilte Direktor Aumann dem Kollegium mit, dass er im Quellenhof bleiben werde, wenn es tatsächlich zu einer Rückführung der Schülerinnen käme. Er bat darum, keine Fragen zu stellen. Dr. Scholten werde die Leitung der Schule übernehmen.
    In der Konferenz, die auch nach dem Abendessen fortgesetzt wurde, waren viele Fragen geklärt worden. Da Rucksäcke nicht vorhanden waren, es aber auch verboten war, Koffer und Kisten mitzunehmen, beschloss man, aus den Trainingsjacken der Mädchen eine Art Rucksack zu machen. Wegen der Witterung sollte jede Schülerin zwei Garnituren Unterwäsche anziehen. Dr. Scholten bestand darauf, dass die Mädchen ihren Ausweis in die Unterkleidung einnähen sollten. Frau Lötsche hielt dafür das Leibchen am besten geeignet. Das sei fest genug, um auch wenige Kleinigkeiten zu verstecken, an denen die Mädchen besonders hingen.
    Niemand traute sich, die Entwicklung offen anzusprechen, die solche Maßnahmen nötig erscheinen ließ. Was geschah, wenn die Gruppe auseinandergerissen wurde? Was, wenn jemand zurückbleiben musste? Konnte es bei einem Tieffliegerangriff nicht Verwundete oder sogar Tote geben? War das Horrorbild völlig aus der Luft gegriffen, dass die Russen die Flüchtenden einholen konnten? Alle waren sich unausgesprochen einig, dass die Vorbereitungen gründlich und unverzüglich getroffen werden mussten, denn der Gefechtslärm und das Rasseln der Panzerketten vom Dorf herauf ließen befürchten, dass der Befehl zum Aufbruch jeden Tag eintreffen konnte.
    Die Informationen aus der Leitstelle in der Stadt blieben nebulös. Es würde sicher gelingen, die feindlichen Truppen zurückzudrängen. Die Busse würden im Augenblick dazu gebraucht, Verstärkungen schnell an die Front zu bringen. Die Quartiere für so viele Mädchen seien nicht leicht zu beschaffen. Die Ungarnflüchtlinge blockierten die Straßen. Aber Sorgen brauche sich niemand zu machen. Wenn das Losungswort durchgegeben werde, sei der versiegelte Umschlag mit dem Plan der Rückführung zu öffnen. Dann würde es keine Unklarheiten mehr geben.
    Die dumpfe Gleichgültigkeit, die sich im Haus breitgemacht hatte, war auf einmal wie weggeblasen. Das ewige Warten hatte für die Mädchen ein Ende. Sie nähten ihre Ausweise an die Leibchen. Dabei bemerkte Irmgard, dass in Annas Ausweis die Vornamen Anna und Lydia standen. Neugierig schaute sie auch auf Lydias Ausweis und fand dort ebenfalls einen Doppelnamen, nämlich Lydia Anna. Als sie danach fragte, antwortete Anna: »Ist doch ganz praktisch bei Zwillingen. Lydia ist unerwartet gekommen und nur wenige Minuten nach mir geboren worden. Meine Eltern hatten sich schon auf meinen Namen geeinigt. Anna Lydia, eben nach meinen beiden Großmüttern. Und dann finde mal so schnell einen weiteren Mädchennamen. Ich glaube, mein Vater hatte die Idee, die Reihenfolge der Namen einfach umzudrehen, Lydia Anna eben.«
    »Ich habe auch zwei Vornamen«, sagte Irmgard. »Aber der zweite ist so blöd, dass ich ihn nie nenne. Der steht nur in meinem Ausweis.«
    »Und wie heißt du noch?«
    Irmgard flüsterte ihr zu: »Versprichst du, es niemandem weiterzusagen?«
    Anna nickte.
    »Ich heiße mit zweitem Namen Rosa.«
    »Was ist daran so blöd?«
    »Mensch, ich heiße so nach der Rosa Luxemburg. Das war so eine ganz Rote bei den Kommunisten. Mein Vater hat mir eingeschärft, das dürfe ich nicht verraten. Das sei was Politisches, was man heute besser verschweigt.«
    »Eltern können schon komisch sein«, seufzte Anna.
    Die Mädchen nähten auch eine kleine Tasche an ihr

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