So weit die Wolken ziehen
Leibchen, in der Andenken verborgen werden konnten. Anna legte ihre kostbarste gepresste Blüte, das Edelweiß, zwischen zwei winzige Pappstücke, band eine Schnur darum und legte ihren Schatz zu der Silberkette mit dem Korallenanhänger, die ihr die Großmutter geschenkt hatte. Unschlüssig betrachtete sie Alberts Foto. Sie konnte sich nicht entschließen, es zurückzulassen, und versteckte es in ihrem Leibchen.
»Wie im Mittelalter«, sagte sie. »Da trugen die Leute ihr Geld und ihre wertvollen Kleinigkeiten auch im Gürtel mit sich.«
Ruth hatte Schwierigkeiten, ihre Trainingsjacke in einen festen Rucksack zu verwandeln. Irmgard war mit sich selbst beschäftigt und Anna vertröstete sie auf später. Ruth bat um die Erlaubnis, noch einmal ihre Freundin Esther im Haus am Hang besuchen zu dürfen. Esther war schon drei Tage nicht mehr zum Unterricht erschienen. Es hieß, sie sei krank. Frau Brüggen mochte Ruth den letzten Besuch nicht abschlagen. Doch es sollte sich viel zwielichtiges Volk in der Gegend herumtreiben und deshalb bat sie Irmgard, die Schwester wenigstens so weit zu begleiten, bis das Haus am Hang in Sichtweite sei.
»Bevor es dämmert, bist du wieder zurück«, sagte sie zu Ruth und wiederholte in schroffem Ton: »Bevor es dämmert.«
Ruth versprach es. Sie nahm die Trainingsjacke mit. Frau Salm hatte eine Nähmaschine. Sie würde ihr bestimmt behilflich sein.
Für Esther hatte sie ein Abschiedsgeschenk bei sich. Bei einem Ausflug auf den Berg hatte sie vor Monaten einen faustgroßen Stein gefunden, der wie eine Taube geformt war. Sie hatte ihn der Lehrerin gezeigt. Die hatte ihn lange angeschaut und gesagt: »Eine Friedenstaube aus Stein. Hoffentlich wird sie bald wieder lebendig und kommt mit einem Ölzweig im Schnabel endlich zu uns geflogen.«
Niemand in der Klasse hatte ihre Anspielung auf den Vogel verstanden, der Noah die Hoffnungsbotschaft zur Arche gebracht hatte. Frau Brüggen ließ den Stein in der Klasse von Hand zu Hand gehen. Wenige Tage später hatte Simone, eine Klassenkameradin, Ruth für den Stein zehn Reichsmark geboten. Zehn Mark! Das waren fünfzig Eis mit Himbeergeschmack! Für zehn Mark musste ihre Mutter in der Fabrik länger als zwei Tage arbeiten! Das war so viel Geld, wie Ruth es noch nie auf einmal in ihrer Geldbörse gehabt hatte. Ruth hatte den Zehnmarkschein in die eine Hand genommen und in die andere den Stein.
»Nein. Behalte dein Geld, blöde Gans«, hatte sie das Mädchen angeschrien. »Die Taube geb ich nicht her.«
»Selber blöde Gans«, hatte Simone verblüfft gesagt.
Auf dem Weg zum Haus am Hang entdeckte Irmgard die Taube. »Was willst du denn mit dem steinernen Vogel?«, fragte sie.
»Ein Geschenk für Esther.«
»Um ihn mitzuschleppen, ist er sowieso zu schwer. Hättest ihn damals verkaufen sollen.«
»Ich schenke ihn Esther«, wiederholte Ruth.
Dort, wo der Weg zum Haus am Hang abbog, kehrte Irmgard um.
»Und denk dran, bevor es dunkel wird, musst du zurück sein.«
Ruth war nicht mehr weit vom Haus der Salms entfernt, als ein Junge, älter und größer als sie, aus dem Wald kam und ihr den Weg versperrte. Er hatte einen struppigen schwarzen Hund an der Leine. Der kläffte sie wütend an. Der Junge hielt ihn zurück. »Was hast du da?«, fragte der Junge.
»Einen Stein. Siehst du doch.«
»Einen Edelstein?«
»Doch keinen Edelstein. Er sieht aus wie eine Friedenstaube.«
»Also doch was Besonderes?«
»Vielleicht«, gab sie zu.
»Zeig her.«
Ruth hob den Stein und drohte: »Bleib weg mit deinem Kläffer. Sonst werfe ich dir den Stein an den Kopf.«
Der Junge lachte. »Soll doch ’ne Friedenstaube sein, oder?«
Er ließ den Hund näher zu ihr heran. Ruth wich nicht zurück.
»Na gut«, spottete er. »Bist ein gefährliches Weib. So einer geh ich lieber aus dem Weg.« Wieder lachte er und zerrte seinen Hund zurück in den Wald.
Frau Salm, von dem Gebell aufmerksam geworden, stand schon in der Haustür. Sie drückte Ruth an sich und spürte, dass das Mädchen zitterte. »Komm herein«, sagte sie. »Aber zu Esther kannst du nicht. Sie liegt seit Tagen krank im Bett und fiebert. Der Arzt war hier und meint, wahrscheinlich hat sie eine schwere Grippe. Soll ansteckend sein. Aber ich öffne dir kurz die Tür zum Schlafzimmer. Hoffentlich bemerkt sie deinen Besuch.«
»Sie wird mich doch bestimmt sehen, oder?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Manchmal fantasiert sie.«
»Ist es sehr schlimm?«, fragte Ruth ängstlich.
»Esther ist
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