So weit die Wolken ziehen
kräftig und zäh. Genau wie du. Sie wird es schon schaffen.«
»Die Taube hier. Esther soll sie jeden Tag streicheln und dabei an mich denken.« Ruth gab ihr den Stein.
Frau Salm schluckte. Das Schlafzimmer war nur durch den Wohnraum zu betreten. Frau Salm öffnete die Tür. Esther lag im Bett. Ihr Kopf war gerötet. Sie murmelte etwas vor sich hin, aber Ruth konnte sie nicht verstehen. Frau Salm stellte die Taube auf das Nachttischchen und wechselte den feuchten Umschlag auf Esthers Stirn. Esther wurde ruhiger. Frau Salm sagte: »Ich koche uns einen frischen Tee. Die Tür bleibt offen. Wir werden eine Tasse trinken, und wenn er kalt geworden ist, versuche ich, ob Esther auch ein wenig möchte.«
Sie deckte den Tisch wie jeden Mittwoch und goss den Tee ein. Nachdem sie nach Esther geschaut und die Tür bis auf einen Spalt zugezogen hatte, setzte sie sich zu Ruth.
»Sie schläft jetzt. Erzähl mir, wie es in diesen Tagen bei euch im Quellenhof zugeht. Aber sprich bitte nur ganz leise.«
Ruth berichtete, dass sie sich auf den Abmarsch vorbereiteten. Sie legte ihre Trainingsbluse auf den Tisch.
»Daraus sollen wir einen Rucksack nähen. Aber ich krieg es nicht hin und niemand hilft mir.«
Frau Salm schaute sich die Bluse an.
»Die Ärmel sollen die Träger werden, Frau Salm.«
»Das müsste zu machen sein. Meine Nähmaschine habe ich in den Nebenraum gestellt. Ich kann es versuchen. Aber wenn du hörst, dass Esther sich rührt, hol mich bitte sofort.«
Ruth rückte ihren Stuhl näher an die Tür. Im Schlafzimmer blieb alles still. Es dauerte ziemlich lange, bis Frau Salm in den Wohnraum zurückkehrte. Sie schaute zuerst nach Esther. »Sie schläft. Zum ersten Mal seit Tagen schläft sie tief und ruhig.« Sie breitete den Rucksack aus. »Durch das Halsloch kannst du alles einpacken, was du mitnehmen darfst. Ich habe eine feste Schnur eingezogen. Damit kannst du den Rucksack zubinden.«
Ruth betastete die Ärmel, aus denen nun Träger geworden waren. Sie fühlten sich fest an.
Frau Salm sagte: »Ich glaube nicht, dass auf Dauer die Ärmel allein als Träger gehalten hätten, auch wenn ihr keine schweren Lasten schleppen müsst. Deshalb habe ich für jeden Traggurt ein Handtuch zusammengefaltet und in jeden Ärmel doppelt und dreifach eingenäht.«
»Die anderen werden staunen«, sagte Ruth. »Das ist ja ein richtiger Rucksack geworden. Bestimmt der schönste von allen bei uns im Haus.« Sie strich mit der Hand über den Stoff. Dabei fiel ihr auf, dass das Wappen mit dem Hakenkreuz fehlte, das auf allen Trainingsjacken aufgesteppt war. Sie sah Frau Salm fragend an.
»Das saß nach dem Nähen ganz schief und sah nicht mehr gut aus«, erklärte Frau Salm. Plötzlich stieß sie zornig hervor: »War immer schon ein Zeichen für Tod und Verderben, dieses vermaledeite Kreuz mit den Haken.«
Als sie merkte, dass Ruth verstört auf ihrem Stuhl saß, schlug sie sich mit der Hand auf den Mund und flüsterte: »Bitte, Ruth, du musst schnell vergessen, was ich gesagt habe. Schnell vergessen, hörst du?«
»Ja, Frau Salm.« Nach einer Weile sagte Ruth: »Ich muss zurück zum Quellenhof.«
»Komm, Kind, wir schauen noch einmal nach Esther.« Sie schob die Tür weit auf. Esther schlief tief. Ruth winkte trotzdem ins Zimmer hinein. »Wir haben auch für dich ein Geschenk«, sagte Frau Salm, als sie schon an der Haustür standen. Sie gab Ruth einen Umschlag. Er fühlte sich weich an. »Du darfst ihn erst öffnen, wenn die Russen oder die Amerikaner euch eingeholt haben. Was da drin ist, kann dir dann vielleicht helfen.«
Ruth dachte: Das wird hoffentlich nie passieren. Aber sie nickte und steckte ihn ein. »Ich werde Esther und Sie nicht vergessen, Frau Salm.«
Frau Salm legte ihr die Handflächen auf den Kopf und sagte ein paar Worte in einer anderen Sprache. Dann hob sie Ruth auf den Arm und sagte: »Esther und ich werden noch oft an dich denken, Kind.«
»Und grüßen Sie auch den Herrn Nowotny von mir, wenn er im Frühling Ihren Garten herrichtet.«
»Der wird wohl nicht mehr kommen können. Er hat die falschen Lieder gesungen. Da haben sie ihn bei Nacht und Nebel abgeholt.« Sie ließ Ruth wieder hinunter.
Ruth hätte gern gewusst, was das für Lieder gewesen waren. Und auch, welche Leute das eigentlich waren, die immer nur mit »sie« bezeichnet wurden. Sie ging ein paar Schritte und drehte sich noch einmal um.
Aber Frau Salm hatte die Haustür schon geschlossen.
Es war eine gespenstische Konferenz, die der
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