So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
Kontrolle behält. Ihr jüngstes Kind trägt sie auf dem Rücken, ein zweites auf dem linken Arm, an dem gleichzeitig drei Einkaufstüten baumeln. Mit der rechten Hand schleppt sie noch zwei Tüten, außerdem krallt sich ihr drittes Kind daran fest, während das vierte vor ihr steht und quengelt, weil es nicht mehr laufen will. Nur die zwei ältesten wirken halbwegs entspannt, sie trotten mit etwas Abstand hinter ihr her.
Die Frau stammt aus dem Libanon, sie und ihr Mann sind palästinensische Flüchtlinge. Ich weiß, dass sie ihre Kinder über alles liebt. Trotzdem hätte sie unter anderen Umständen keine sechs bekommen, schon gar nicht in Abständen von jeweils ungefähr einem Jahr. Das hat sie meiner Mutter anvertraut. Da sie und ihr Mann für Deutschland keine Aufenthaltserlaubnis haben, sondern nur geduldet sind, setzen sie ein Kind nach dem anderen in die Welt, um nicht abgeschoben zu werden. Wenn ich das richtig verstanden habe, dürfen sie nicht ausgewiesen
werden, solange ihr jüngstes Kind noch nicht ein Jahr alt ist. Und irgendwann, hoffen sie, wohnen sie lange genug hier, um doch noch Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen.
Habe ich eigentlich erwähnt, dass unser Haus, ein Altbau, sechs Stockwerke hoch ist, aber keinen Fahrstuhl hat? Ich weiß also sofort, was auf mich zukommt, weil das immer so ist, wenn ich die Nachbarin mit ihren Kindern im Schlepptau treffe. Man kann das ja nicht mit ansehen. Ich biete ihr meine Hilfe an, schnappe mir die fünf Einkaufstüten und starte den Hindernis-Treppenlauf noch einmal in die andere Richtung. Oben bedankt sich die Nachbarin, wie immer, und wie immer habe ich das Gefühl, ihr ist es unangenehm, sich von mir helfen zu lassen. Auf dem Weg hinunter denke ich darüber nach, doch der Gedanke verfliegt schnell, weil ich mir vorstelle, wie meine Tante allein im Café herumsitzt.
Draußen beschleunige ich meine Schritte, flitze die Bülowstraße entlang Richtung U-Bahnhaltestelle. Es ist ein lauer Abend. Am Straßenrand haben sich junge Frauen in knappen Kleidern neben geparkten Autos postiert. Die müsste Baba sehen! Dagegen wirke ich wie ein Mauerblümchen. Die Gesichter von einigen kenne ich, sie kreuzen fast jeden Tag hier auf, stehen die halbe Nacht herum und lauern auf Freier. Und wenn keine kommen, übernehmen sie selbst die Initiative, springen einfach zu Männern ins Auto, die gerade einparken wollen. Baba passiert das häufig, wenn er nachts von der Arbeit kommt. Dann regt er sich jedes Mal tierisch auf und schwört, seine Familie von hier wegzubringen. Doch unsere Wohnung ist sehr kostengünstig, so eine muss man erst mal finden.
Von mir aus müssen wir auch nicht wegziehen. Ich mache noch das Abitur, und dann verschwinde ich sowieso. Das wissen meine Eltern nur noch nicht. Sie gehen davon aus, dass ich bei ihnen wohnen bleibe, zumindest bis ich heirate. Wegen der Traditionen, die ihnen so wichtig sind. Weil Töchter in muslimischen Familien erst das Elternhaus verlassen, wenn sie heiraten. Denken sie. Hoffen sie. Für mich kommt das überhaupt nicht in Frage. Ich liebe Anne und Baba, auch wenn wir oft aneinandergeraten. Sie haben mich liebevoll aufgezogen, und ich weiß, sie wollen auch jetzt nur mein Bestes. Nicht auszudenken, wie schrecklich es wäre, sie zu verlieren. Aber wir leben leider in unterschiedlichen Welten. Und ich merke jeden Tag mehr, wie sehr ich mich nach Freiheit sehne. Nicht mehr kontrolliert, nicht mehr ständig bevormundet zu werden - was für ein schöner Traum! Ich habe auch schon einen Plan, wie ich ihn mir erfüllen werde. Aber den verrate ich erst später.
Tante Zeynep wartet tatsächlich schon. Sie ist die älteste Schwester meiner Mutter und innerhalb der Familie meine engste Vertraute. Deswegen haben die beiden auch manchmal Krach. Ich glaube, Anne fühlt sich gekränkt, wenn ich Geheimnisse mit meiner Tante teile und nicht mit ihr, der eigenen Mutter. Sie sind so grundverschieden, dass ich mich sowieso frage, wie sie von denselben Eltern abstammen können. Anne trägt Kopftuch, langen Rock und Tunika, unter denen alle Körperkonturen verschwinden, Tante Zeynep meist Jeans mit Blusen oder Pullover, man kann sagen: figurbetont. Doch abgesehen von ihrer Kleidung unterscheidet sie vor allem der Glaube. Obwohl beide als Kinder zur Moschee-Schule geschickt und auch zu Hause im Sinne des Islam erzogen wurden, ist Tante
Zeynep heute - im Gegensatz zu Anne - Atheistin. Außerdem ist sie die Temperamentvollste unserer
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