So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
Bedeutung, wenn man das halbe Leben
schon hinter sich hat. Ich bin nicht so fürs Zurückschauen. Klar erinnere ich mich auch gern an schöne Dinge in meiner Kindheit oder so. Aber ich klebe nicht an der Vergangenheit, lebe lieber im Jetzt und blicke nach vorn. Das finde ich viel spannender. Was war, kann ich sowieso nicht ändern. Was war, wird auch nicht noch mal sein, so viel ist schon mal klar.
Bei meinen Großeltern ist diese Sehnsucht noch verschärfter. Das kann ich aber schon eher verstehen. Sie waren viel stärker in der Türkei verwurzelt, hatten dort schon ein Leben gehabt, bevor sie nach Deutschland gingen. Ihr Umzug war nur als Übergangslösung geplant, für ein paar Jahre, dann wollten sie sowieso zurück. Sie lebten auch immer mit dieser Vorstellung im Kopf und ließen sich deswegen gar nicht erst auf eine neue Heimat ein, die Deutschland für sie hätte werden können.
Wenn ich mir das in unserer Familie so ansehe - wie eine Kettenreaktion, die sich über ein paar Generationen hinzog und noch immer nicht abgeschlossen ist. Erst die Vorfahren meiner Großeltern: Türken ohne Wenn und Aber, die kaum einmal die Grenzen ihres Dorfes verließen, geschweige denn des Landes. Dann meine Großeltern, die von der Verheißung des Westens auf ein bisschen Wohlstand angezogen wurden und vorsichtig den Schritt in eine andere Welt wagten. Danach meine Eltern, die, noch aufgezogen und umhegt in der Türkei, verpflanzt wurden wie zarte, junge Sprösslinge von einem Gewächshaus ins Freiland. Denn so ungefähr muss man sich den Unterschied zwischen ihrem Dorf und Berlin vorstellen. In ihrem Dorf befanden sie sich in einer überschaubaren und geschützten Zone. Dagegen ist Berlin die pure Wildnis.
Und jetzt Tayfun und ich: In Berlin geboren und aufgewachsen, ohne eigene Wurzeln in einem Heimatland, das uns keine Heimat mehr ist und auch niemals mehr sein kann.
Auch irgendwie erschreckend: Zwei Generationen brechen aus dem gewohnten Leben aus, beschreiten neue Wege, und schon weiß die dritte nicht mehr so richtig, wo sie hingehört. Das ist die andere Seite der Medaille. Keine Ahnung, ob es viele Kids gibt, die mit dreizehn Jahren darüber nachdenken, was der Begriff Heimat für sie bedeutet. Bei mir passierte das ungefähr in diesem Alter. Ich fand, ganz schön früh. Übrigens in den Sommerferien, in der Türkei. Nicht nur in diesem einen Urlaub, auch später, aber da fing es an. Ich kam mit einheimischen Jugendlichen ins Gespräch und stellte fest, dass sie völlig anders drauf waren als ich. Kann man schwer erklären. Irgendwie dachten sie nicht so offen, sahen nur sich und wirkten ziemlich eingebildet. Ich hatte das Gefühl, für die war ich weniger wert, nur weil ich nicht wie sie in der Türkei lebte. Manche hatten die Schule abgebrochen, spielten sich aber auf, als wären sie echte Intelligenzbolzen. Einige von den Mädchen taten so, als wären sie die Prinzessin aus dem Morgenland - als hätten sie keinen Spiegel zu Hause gehabt. Und wer denkt, die jungen Leute da würden sich nach den alten Werten und Traditionen richten, wie Anne und Baba das immer von mir verlangen, der irrt sich gewaltig. Das scheint die einen Dreck zu interessieren. Ein Kerl, den ich höchstens zwei- oder dreimal gesehen hatte, also nur »Hallo!« und »Wie geht’s« und so, mehr war da nicht, kam plötzlich an und verlangte, dass ich mich vor seiner Webcam ausziehe. Der meinte das ernst. Er fragte auch gar
nicht richtig, tat eher so, als hätte er ein Anrecht darauf. Oder wenn ich hörte, worüber die Mädels redeten - ständig nur: Jungs, Jungs, Jungs.
Ich will das jetzt gar nicht verallgemeinern. Bestimmt ticken nicht alle so. Wahrscheinlich war ich nur an ein paar besonders krasse Gestalten geraten. Trotzdem dachte ich: Nee, so wie die bist du nicht! Da sind dir deine Freunde in Berlin doch lieber. Und so kam ich drauf, fing an zu überlegen, ob die Türkei meine Heimat sein konnte. Konnte sie nicht! Kann sie nicht! Meine Heimat ist da, wo mein Zuhause ist, und mein Zuhause ist da, wo mein Herz ist. Und mein Herz ist eindeutig in Deutschland, in Berlin. Das sage ich heute. Damals war ich eher verunsichert, spürte das höchstens.
Aber ich bin noch nicht fertig mit meinem Familienund-Heimat-Generationsgedanken. Denn man könnte nun noch spekulieren, wie es in Zukunft weitergeht. Ich sehe das sogar schon ziemlich deutlich vor mir: Vielleicht werde ich einen Türken heiraten, vielleicht - und das ist fast wahrscheinlicher - aber
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