So will ich schweigen
einem schwarzen Zylinder schob sich durch die Reihen der Schaulustigen nach vorn, kniete sich neben die Leiche und öffnete seine schwarze Tasche. Aus ihren Tiefen holte er eine Flasche mit Medizin hervor, die verdächtige Ähnlichkeit mit Apfelmost hatte, sowie eine Pille von der Größe eines Tischtennisballs. Der Doktor hielt die Pille zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, um sie der Menge zu zeigen. Dann schob er sie zwischen die schlaffen Lippen des Toten.
Eine spannungsgeladene Pause trat ein, alle hielten die Luft an – und dann begann der Tote sich plötzlich zu regen, setzte sich auf und schüttelte sich mit übertriebener Heftigkeit. Er spuckte die Pille aus, nahm einen Schluck aus dem Krug, verdrehte die Augen und wischte sich mit dem Handrücken über
den Mund. Dann sprang er auf und begann den Mörder mit derselben Keule zu attackieren, die zuvor gegen ihn eingesetzt worden war.
Nach einer wilden Jagd über den kleinen freien Platz in der Mitte des Pubs fiel der Mörder schließlich besiegt auf die Knie, und die Menge brach in Jubel aus. Mörder, Opfer und Doktor verbeugten sich, dann nahm der Doktor mit einer schwungvollen Geste seinen Zylinder ab und ließ ihn herumgehen, während ringsum die Gläser zu klirren begannen.
»Das ist ja barbarisch«, zischte Gemma Kincaid zu, der neben ihr an der Theke lehnte. Sie hatten gerade in der Schlange gestanden, um Getränke zu holen, als das Stück angefangen hatte. Sofort waren alle Gespräche verstummt, und alle Augen hatten sich auf die »Bühne« gerichtet.
Kincaid warf das Wechselgeld, das der Barmann ihm in die Hand gedrückt hatte, in den Hut des Doktors, der gerade bei ihnen vorbeikam, und meinte: »Der Mummenschanz am zweiten Weihnachtstag ist eine altehrwürdige ländliche Tradition. Ich fand die Vorführung eigentlich gar nicht so schlecht.«
Für Gemma bedeutete der zweite Weihnachtstag vor allem Fußball im Fernsehen, und das fand sie dann doch noch etwas zivilisierter als von Pantomimen gespielte Morde, Hooligans hin oder her. Toby, der sich ängstlich an sie geklammert und das Gesicht abgewandt hatte, als der Schurke zuschlug, zupfte an ihrem Hosenbein. »Mami, ist der böse Mann jetzt weg?«
Gemma, die gar nicht gemerkt hatte, dass er echte Angst gehabt hatte, kniete sich schuldbewusst neben ihn und strich ihm durchs Haar. »Ja, mein Schatz. Das war alles nur gespielt – genau wie im Fernsehen oder im Kino. Siehst du, jetzt sind sie wieder Freunde.« Sie deutete auf die Schauspieler, die sich inzwischen an einem Ecktisch angeregt unterhielten, und Toby stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie zu sehen.
»Das Stück ist aus dem Mittelalter, wenn nicht noch älter«,
erklärte Kincaid, während er mit Gemma die Getränke einsammelte, die sie besorgt hatten. »Vielleicht sogar heidnisch – das weiß offenbar niemand so ganz genau. Wenigstens steinigen sie heutzutage keine Zaunkönige mehr.«
»Zaunkönige steinigen?« Gemma schaute ihn fragend von der Seite an. »Du meinst diese süßen kleinen Vögel?«
»Der 26. Dezember ist der Tag des heiligen Stephanus, eines frühchristlichen Märtyrers, der zu Tode gesteinigt wurde«, erklärte Kincaid, als sie sich hinter Toby durch die vollbesetzte Kneipe schlängelten. »Der Legende nach war es der Zaunkönig, der Stephanus an den Pöbel verriet, und deshalb sind die jungen Burschen früher am zweiten Weihnachtstag losgezogen und haben Zaunkönige mit Steinwürfen erlegt, als eine Art Vergeltung. Dann haben sie den kleinen Vogelkörper an eine mit Bändern geschmückte Stange gebunden und im Triumph durchs Dorf getragen.«
»Puh.« Gemma verzog das Gesicht. »Du hast gewonnen. Da ist mir der Mummenschanz wirklich noch lieber. Aber ihr Provinzler habt wirklich alle einen kleinen Knall«, neckte sie ihn, auch wenn sie dem Landleben trotz allem allmählich auch positive Seiten abgewinnen konnte.
Sie hatte die Zeit mit den Kindern an diesem Morgen sogar genossen – wenigstens mit den beiden Jüngeren. Sam hatte erstaunlich viel Geduld mit Toby bewiesen, und Toby hatte mit seinem unkomplizierten Enthusiasmus reagiert. Und die Ponys waren auch ganz nett gewesen: zottige, freundliche Kreaturen, die sie anstupsten und ihr die Möhren aus der Hand fraßen, während ihr Atem sie in warme, nach fermentiertem Getreide riechende Wolken hüllte.
Aber was ihr die Freude ein wenig verdorben hatte, waren die Spannungen, die sie zwischen Kit und Lally wahrgenommen hatte – obwohl die beiden einander die
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