So will ich schweigen
kurzem Zögern tat Kincaid es ihm gleich. »Du bist hier schließlich der Boss.«
Der Bug des Boots war inzwischen wieder bis auf rund dreißig Zentimeter ans Ufer herangetrieben worden, und Babcock wollte den Moment ausnutzen, in dem die Lücke möglichst klein war. Die Uferbefestigung aus Beton war mit Moos überwuchert, und als er sich hinkniete, spürte er sofort, wie die Feuchtigkeit durch den Stoff seiner Hose drang. Er beugte sich vor und war sich dabei sehr bewusst, dass er nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit den Erfrierungstod sterben würde, sollte er kopfüber in den Kanal stürzen, sondern auch, dass das Missgeschick ihn bis an sein Lebensende verfolgen würde, sollte er es überleben. Bis zu seiner Pensionierung würden die Kollegen ihn mit seinem unfreiwilligen Kopfsprung aufziehen.
Seine Finger berührten das glitschige Dollbord und bekamen es zu fassen, doch sein Triumph war von kurzer Dauer, denn sogleich spürte er den überraschend starken Widerstand des Boots. Ein paar Sekunden lang hing er zwischen Ufer und Bordwand und wusste genau, wenn das Boot sich in die andere Richtung bewegte, würde es ihn mitziehen – doch dann lächelte ihm das Glück, und die Horizon glitt sanft an die Uferbefestigung heran.
Einer der Uniformierten trat vor und packte das Dollbord, sodass Babcock nach der Leine greifen konnte, die vom mittleren Fender herabhing und wie eine bleiche Schlange im Wasser trieb. Der Bodenanker, an dem die Leine befestigt gewesen war, hatte dunkle Löcher im Gras hinterlassen, doch von dem Anker selbst war weit und breit nichts zu sehen.
Der uniformierte Constable zog ein Paar Handschuhe aus der Tasche, streifte sie über und nahm Babcock die Leine ab. »Ich nehme sie, Sir, dann können Sie an Bord gehen und schauen, ob Sie einen Ersatzanker finden.«
Babcock kletterte über das Dollbord, und Kincaid folgte ihm, wobei er mit seinen langen Beinen im Vorteil war. Im
Boot blieben beide stehen und suchten das Deck nach verdächtigen Spuren ab, doch Babcock konnte nirgendwo Abdrücke von schlammigen Sohlen oder Blut entdecken. Das Geräusch des Generators, das er zuvor nur am Rande wahrgenommen hatte, war hier deutlicher zu hören, doch es war immer noch nicht lauter als das Summen einer menschlichen Stimme.
Nach kurzer Suche hatte er in dem ordentlich aufgeräumten Hinterdeck einen Ersatzanker gefunden und reichte ihn dem am Ufer wartenden Constable. »Stecken Sie ihn weit von der ursprünglichen Verankerung entfernt ein«, wies er ihn an. Kincaid gab ein paar Meter Leine von der Bugstütze aus, und der Constable ging zum Heck und bohrte den Anker weit weg von dem zertrampelten Rasenstück um den ursprünglichen Ankerpunkt in die Erde.
»Jetzt dürfte es nicht mehr abhauen«, rief er, »auch wenn der Anstrich vielleicht ein paar Kratzer abkriegt.«
Von dort, wo er stand, sah Babcock einen schwachen Lichtschein im Spalt des nicht ganz geschlossenen Flügels der Kabinentür. Er streifte seine Handschuhe über, und mit einem Blick in Kincaids Richtung zog er die Tür auf und trat in die Kabine.
»Heiliger Strohsack.« Er blieb so abrupt stehen, dass Kincaid von hinten gegen ihn stieß.
»Genau das hab ich mir auch gedacht, als ich es zum ersten Mal sah«, sagte Kincaid, als Babcock zur Seite trat, um ihm Platz zu machen. Trotz des lockeren Tons konnte Babcock die Anspannung in seiner Stimme hören. Auch ihm ging er an die Nieren, dieser überwältigende Eindruck eines jäh abgebrochenen Lebens.
Das Feuer im Holzofen war erloschen, doch die Heizkörper gaben noch Wärme ab; das Licht brannte. Ein Buch lag aufgeschlagen auf einem Beistelltisch, daneben ein halb volles Glas
Weißwein. Eine dick gefütterte Jacke hing an einem Haken an der holzverkleideten Wand neben der Kabinentür.
»Dass eine Sozialarbeiterin – und erst recht eine pensionierte Sozialarbeiterin – sich so was leisten kann, hätte ich nie für möglich gehalten«, meinte Babcock, der immer noch fasziniert die luxuriöse Inneneinrichtung begutachtete. Zusammen mit dem tadellosen äußeren Zustand des Boots und dem teuren schallgedämpften Generator ergab sich ein eindeutiges Bild: Hier waren wirklich keine Kosten gescheut worden.
»Sozialarbeiterin?« Kincaid war offensichtlich überrascht. »Sie war Sozialarbeiterin? Und du hast sie gekannt?«
»Ich habe bei ein paar Fällen mit ihr zusammengearbeitet. Aber dann hörte ich, sie habe den Dienst quittiert – so vor fünf, sechs Jahren. Ist komplett von der
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