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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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konnte er immer weniger erkennen.
    Er stand einen Moment lang da und blickte sich in der Kabine um. Der Topf mit den Resten des Eintopfs, den er zum Abendessen gekocht hatte, stand noch auf dem Gaskocher. Er betrachtete die Zierteller und Messinggerätschaften, die die polierten Holzwände schmückten, die farbenfrohen Details der Burgenszene, die Rowan auf die Unterseite des Klapptischs gemalt hatte. Die Kinder hatten Lametta und eine rotgrüne Luftschlange über die Fenster drapiert, und Marie hatte ein selbst gemaltes Bild aufgehängt, das den Weihnachtsmann mit einer spitzen Mütze auf dem Kopf zeigte.
    Im Ofen war nur noch glimmende Asche. Mit jäher Entschlossenheit nahm Gabe ein Scheit aus dem Korb und legte es
ins Feuer. Es war schließlich Weihnachten, und er wollte verdammt sein, wenn sie das Fest frierend verbringen würden. Vielleicht würde das Wetter ja morgen umschlagen. Vielleicht würde er noch vor Neujahr einen Schreinerjob auf dem Bau bekommen. Er hatte seine Kontakte hier in der Gegend – das war das Einzige, was ihn dazu bewogen hatte, an diesen Abschnitt des Kanals bei Nantwich zurückzukehren.
    Ja, gewiss, dachte er, und wie so oft in diesen Tagen überkam ihn eine Woge der Bitterkeit. Vielleicht würde der Weihnachtsmann ja tatsächlich kommen. Vielleicht würde die provisorische Toilette des Boots ausnahmsweise mal ohne Mucken funktionieren. Und vielleicht würde es seiner Frau durch irgendein Wunder plötzlich besser gehen, statt dass sie von Minute zu Minute schwächer und gebrechlicher wurde.
    Die Tränen brannten ihm in den Augen, und er blinzelte sie verärgert weg, während er mit dem Schürhaken das Feuer anfachte, bis es ihm fast das Gesicht versengte. Sie entglitt ihm zusehends, und er konnte es einfach nicht ertragen, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten.
    Er sah nur noch eine Möglichkeit. Er konnte das Boot verkaufen. Es gab immer Sammler, die am Kanal herumschnüffelten, auf der Jagd nach traditionellen, noch im Betrieb befindlichen Narrowboats , erbaut vor den Fünfzigerjahren, je weniger verändert, desto besser. Und dass ganze Familien in den zwei mal zweieinhalb Meter großen Kabinen gelebt, dass kleine Kinder auf den abgedeckten Kohle- oder Kakaoladungen im Frachtraum gespielt hatten – das machte das Ganze nur noch romantischer.
    Gabe schnaubte verächtlich. Alles Idioten, die unbedingt Kanalschiffer spielen wollten – von denen würde keiner seine Daphne kriegen. Er war auf diesem Boot geboren, genau wie sein Vater, und jetzt war seine Familie eine der letzten, die noch an der alten Lebensweise festhielten.

    Und das Boot zu verkaufen wäre doch bestenfalls eine Notlösung – das wusste er. Wo sollten sie denn hingehen? Was sollten sie tun? Sie hatten nichts anderes gelernt, und nirgendwo sonst konnten sie sich sicher fühlen.
    Er dachte an das Gesicht aus der Vergangenheit, das ihm heute so unerwartet erschienen war. Es war an der Einmündung des Middlewich-Arms bei Barbridge gewesen, wo die Frau ihr Boot um die enge Kurve manövriert hatte – sehr geschickt, hatte er sich gedacht, dafür, dass sie das Boot ganz allein steuerte. Und dann hatte sie aufgeblickt.
    Es hatte einen Moment gedauert, bis er das Gesicht in der ungewohnten Umgebung richtig eingeordnet hatte – und dann hatte ihm die alte Angst das Herz zusammengeschnürt. Auch sie hatte ihn und seine Familie erkannt, hatte sich freundlich mit Rowan und den Kindern unterhalten, aber er traute ihr nicht. Warum sollte er auch? Etwa wegen dem, was die Frau für sie getan hatte?
    Sie und ihresgleichen hatten immer nur Ärger bedeutet, ganz gleich, wie gut sie es gemeint hatten – nichts als Ärger für ihn oder seine Leute. Er war der Idiot gewesen, wenn er geglaubt hatte, er könnte endlos davor davonlaufen.
    Leise trat er in die Kabine der Kinder und blickte auf ihre schlafenden Gestalten hinunter. Das Licht, das von der Schneedecke draußen reflektiert wurde, schien heller als ein Vollmond durch das Fenster. Er kniete sich neben die Koje seiner Tochter, und als er mit seiner großen, schwieligen Hand über ihre Locken strich, reifte ein eiserner Entschluss in ihm.
    Er wusste nur eines, und das war genug. Er würde tun, was getan werden musste, um den Rest seiner Familie vor Schaden zu bewahren.

4
    Von dem Augenblick an, als er aufgeblickt und bemerkt hatte, dass sie ihn von der Treppe aus beobachtete, war Kit davon überzeugt, dass Lally Newcombe das schönste Wesen war, das er im Leben je gesehen

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