So will ich schweigen
hatte. Er wagte es nicht, sie anzusehen, aus Angst, dass seine Miene ihn verraten würde, und doch hatte er die Augen nicht von ihr lassen können. Der Begrüßungstrubel und das Gewusel der Hunde um ihn herum war zu einem bloßen Hintergrundrauschen verblasst, und als Tess von seinem Arm gesprungen war, hatte er das Gefühl gehabt, plötzlich splitternackt dazustehen, dem kühlen, kritischen Blick des Mädchens schutzlos ausgesetzt.
Der Auftritt von Jack, dem Border Collie, und der anschließende Massenexodus aus der Diele in Richtung Küche hatten ihn zunächst aus seiner Verlegenheit gerettet, aber selbst dann noch hatte er jede von Lallys Bewegungen registriert, als wäre jeder Quadratzentimeter seiner Haut plötzlich mit hochempfindlichen Sensoren ausgestattet. Er war hinter den anderen zurückgeblieben, und es war ihm vorgekommen, als hätten seine Hände und Füße sich in riesige, klobige Anhängsel verwandelt.
Später in der Küche hatte er Lally zu ignorieren versucht, hatte es krampfhaft vermieden, ihr Gesicht anzuschauen, den Streifen nackter Haut zwischen ihrem T-Shirt und ihrer Jeans. Als Rosemary ihn ansprach, musste er sich zwingen, ihr konzentriert zuzuhören und mit normaler Stimme zu antworten, auch wenn der Kloß in seinem Hals noch so groß war.
Rosemary – seine Großmutter , schärfte er sich ein. Noch war ihm die Vorstellung seltsam fremd, obwohl er ihr schon einmal begegnet war, bei der Beerdigung seiner Mutter. Damals hatte er allerdings noch nicht gewusst, dass er mit ihr verwandt war. Trotzdem war sie nett zu ihm gewesen und hatte Eugenia unerschrocken die Stirn geboten. Es war der einzige Lichtblick gewesen an diesem Horrortag.
Eugenia, seine andere Großmutter, die Mutter seiner Mutter. Würde er je das Wort »Großmutter« hören können, ohne an sie zu denken? Sie war die einzige Großmutter, die er bisher gekannt hatte, und Bob, der Vater seiner Mutter, der einzige Großvater.
Während er Rosemary half, den Tisch für den Tee zu decken, hatte er neugierig zu Hugh, seinem neuen Großvater, aufgeblickt. Hugh Kincaid war ein groß gewachsener Mann mit einem hageren, ziemlich scharf geschnittenen Gesicht und einer angenehm natürlichen, sportlichen Ausstrahlung. Aber er hatte auch etwas von einem Bücherwurm – diesen leicht verträumten Blick -, und Kit konnte sich vorstellen, dass er zu den Leuten gehörte, die zu ausgedehnten Selbstgesprächen neigten.
Im Augenblick jedoch lachte und scherzte er mit den kleineren Jungen, und Kits Gesicht glühte vor Neid. In diesem Moment hasste er Toby, hasste die Leichtigkeit, mit der er Freundschaften schloss. Doch gleich darauf schämte er sich wieder in Grund und Boden. Er hasste sich schon für den bloßen Gedanken – und dafür, dass er vorhin auf der Fahrt so gemein zu dem Kleinen gewesen war.
Er wusste selbst nicht, was in letzter Zeit in ihn gefahren war. Manchmal schien es ihm, als ob ein fremdes Wesen sich zwischen seinem Gehirn und seinem Mund eingenistet hätte, über das er keine Gewalt hatte und das nur darauf lauerte, das Kommando zu übernehmen, sobald er etwas sagte. Und dann
waren da die Träume. In den ersten Monaten nach dem Tod seiner Mutter hatten sie ihn regelmäßig geplagt, und jetzt waren sie wieder da, schlimmer als je zuvor. Er erwachte jedes Mal schweißgebadet, ihm war übel und ihm graute davor, wieder einzuschlafen. Und danach war ihm immer den ganzen Tag irgendwie flau im Magen. Vielleicht würde es hier besser sein, weit weg von zu Hause, weit weg von der Schule.
Der Gedanke an die Schule rief ihm die Szene mit Duncan und Gemma am Morgen ins Gedächtnis, und er wand sich innerlich. Er hatte gewusst, dass es irgendwann herauskommen würde, aber er hatte geglaubt, es würde sich vorher noch eine Gelegenheit zur Beichte ergeben, eine Chance, alles zu erklären. Aber irgendwie war der passende Zeitpunkt nie gekommen, und als er sich so unerwartet ertappt gesehen hatte, da hatten sich all die Worte, die er sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte, auf einen Schlag verflüchtigt wie geisterhafte Schatten, und er hatte nur in qualvollem Schweigen dagestanden und war sich vorgekommen wie ein Idiot.
Das Klappern des Geschirrs holte Kit mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. Die Mahlzeit war beendet, und Hugh räumte die Teesachen ab. Als Sam vorschlug, nach draußen zu gehen, war er nur dankbar für diese Ablenkung von seinen düsteren Gedanken.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung bemerkte
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