So will ich schweigen
ihn die Schiffer liebevoll nannten, war eigentlich ein Netzwerk von Kanälen, die im Lauf der Zeit von verschiedenen Kanalgesellschaften gebaut worden waren. Hier bei Nantwich stieß der ehemalige Chester Canal auf den schmalen Liverpool-Birmingham-Kanal, erbaut in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts von dem schottischen Ingenieur Thomas Telford. Der eiserne Aquädukt war zwar nicht ganz so beeindruckend wie sein steinernes Gegenstück bei Pontcysyllte in Wales – ebenfalls ein Werk Telfords -, doch Annie hatte den Anblick seiner kühnen Linien immer geliebt. Dieser Aquädukt und der Liverpool-Birmingham-Kanal waren Telfords letzte Projekte gewesen. Er hatte ihre Vollendung nicht mehr erlebt, und das verlieh ihrer Schönheit irgendwie eine bittersüße Note.
Rowan Wain hatte ihr vom Pontcysyllte-Aquädukt erzählt, der den Llangollen-Kanal über die ganze Breite des Dee-Tales führte. Und als sie dann zum ersten Mal mit der Horizon den Llangollen entlanggefahren war und all ihren Mut für die Überfahrt über den Aquädukt zusammengenommen hatte, da hatte eine Mischung aus Panik und Begeisterung sie erfasst.
Das Boot schien in der Luft zu schweben wie ein Geist, hoch über dem Tal, und nichts, was Annie bis dahin erlebt hatte, kam dieser Erfahrung gleich. Danach hatte sie sich zum ersten Mal wie eine richtige Binnenschifferin gefühlt.
Von dort, wo sie nun stand, konnte sie den Zuckerguss aus Schnee auf den Dächern von Nantwich sehen, und sie meinte, den Turm von St. Mary’s gerade eben als hoch aufragenden dunklen Schatten ausmachen zu können. Schon damals als Kind, wenn sie von ihrem Heimatort Malpas im Süden von Cheshire nach Nantwich gefahren waren, hatte die Stadt sie fasziniert. Die Fachwerkfassaden der Läden um die Grünanlage des Marktplatzes herum hatten sie an die Bilder auf einer Pralinenschachtel erinnert, und besonders gefallen hatte ihr der Kontrast zwischen dem massiven roten Ziegelbau von St. Mary’s und den hübschen kleinen Häuschen ringsum.
Einmal hatte sie ihre Eltern gebeten, an Heiligabend mit ihr in die Mitternachtsmesse in St. Mary’s zu gehen. Ihre Mutter hatte sich geweigert und mit ihrer gewohnt verächtlichen Art erwidert, dass Malpas sehr wohl auch eine Kirche besitze, dass sie sich nun einmal dort sehen lassen müssten und dass es einfach idiotisch wäre, bei Dunkelheit und schlechtem Wetter zwanzig Meilen zu fahren, nur um woanders in die Messe zu gehen.
Damit hatte Annie gerechnet, aber zu ihrer Überraschung hatte ihr Vater sich einverstanden erklärt, und sie waren einfach zu zweit gefahren. Schon damals hatte Annie gewusst, dass ihr Vater dafür tagelang den Zorn ihrer Mutter würde erdulden müssen, aber ihr schlechtes Gewissen hatte ihre Freude nicht trüben können. Es kam selten vor, dass sie irgendetwas mit ihrem viel beschäftigten Vater allein unternahm. Sie hatten nicht viel geredet, aber es war ihnen wie ein Abenteuer vorgekommen, und dass sie offen gegen Annies Mutter rebelliert hatten, verlieh dem Ganzen einen zusätzlichen Reiz.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich ihrem Vater je so nahe gefühlt hatte wie an jenem Abend.
Jahre später, als sie bereits mit ihrem Mann in dem Haus lebte, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, war ihr einmal der Gedanke gekommen, ihn zu fragen, ob er mit ihr in die Mitternachtsmesse in St. Mary’s gehen würde. Als der unbekümmerte Atheist, der er war, hätte Roger ihr sicherlich ihren Willen gelassen, aber gerade die Vorstellung, dass er es nur aus Gefälligkeit tun würde, hatte sie bewogen, darauf zu verzichten. Roger hatte allen ihren Leidenschaften immer nur diese zwar liebevolle, aber leicht ironische Herablassung entgegengebracht, und diese spezielle Erinnerung war zu kostbar, um sie von ihm ins Lächerliche ziehen zu lassen.
Und dennoch – obwohl sie nun schon seit fünf Jahren getrennt waren, und obwohl sie Roger so gut kannte – war die Versuchung, sich ihm anzuvertrauen, sehr groß. Sie hatte ihm alles über ihre Begegnung mit den Wains erzählen wollen, über ihre Sorge um Rowan Wains Gesundheit. Sie war sogar schon so weit gegangen, seine Handynummer zu wählen, doch in letzter Sekunde unterbrach sie die Verbindung.
Es war Heiligabend. Roger würde einen Anruf als Eingeständnis ihrer Einsamkeit interpretieren, vielleicht gar ihres Scheiterns.
Einsamkeit, ja – aber sie war schon einsam gewesen, als sie noch zusammen gewesen waren, manchmal mehr als jetzt. Scheitern, nein – noch nicht, auch
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