Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
Vom Netzwerk:
aussah. Vorsichtig umkurvte er den am Boden liegenden Pickel, während Travis eine Lampe zurechtrückte, um die Stelle besser auszuleuchten. Da setzte sein Gehirn plötzlich die einzelnen Elemente dessen, was er sah, zu einem sinnvollen Ganzen zusammen.
    »Mein Gott«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Das trug ihm einen finsteren Blick von Barnett ein, den er jedoch ignorierte. Die Zweige waren in Wirklichkeit die Knochen einer winzigen, zur Faust geballten Hand. Was er für einen Klumpen Wurzelfasern gehalten hatte, entpuppte sich als schütterer Rest feiner Haare über einem eingeschrumpften Gesicht. Die tiefen, leeren Augenhöhlen schienen ihn anzustarren.
    Kein Wunder, dass Juliet Newcombe schockiert gewesen war. Babcock hatte in seiner Laufbahn schon weit Schlimmeres zu sehen bekommen, was Blut und Verstümmelungen betraf, aber dieser kleine Leichnam hatte wahrlich etwas herzergreifend Hilfloses. Wer konnte einem Kind so etwas angetan haben?
    Die untere Hälfte des kleinen Körpers war noch in sein Leichentuch aus Mörtel gehüllt, doch soweit Babcock sehen konnte, wies er keine Spuren äußerer Verletzungen auf, und weder auf der Decke noch auf den Kleidern waren Blutflecken zu erkennen. Stimmen an der Tür verrieten ihm, dass die Rechtsmedizinerin eingetroffen war. Er wandte sich um, einigermaßen erleichtert, jemand anderem die Untersuchung der Leiche überlassen zu können.
    Dr. Althea Elsworthy betrat zielstrebig den Stall und lehnte den Papieroverall, den Travis ihr hinhielt, mit einer ungehaltenen Handbewegung ab. Sie hatte stets ihren eigenen Vorrat an Schutzhandschuhen dabei und blieb nun kurz hinter
dem Eingang stehen, um ihre dicken Wollfäustlinge in die Manteltasche zu stopfen und die Latexhandschuhe aufzublasen, ehe sie sie überzog. »Mumifiziert, wie?«, meinte sie. Die Frage war offenbar an Babcock gerichtet, obwohl sie ihn noch keines Blickes gewürdigt hatte. Noch ehe er mit Nicken fertig war, fuhr sie fort: »Dann können wir uns ja die Raumanzüge sparen, und meinen Mantel ziehe ich in dieser Schweinekälte auch nicht aus. Fällt mir ja gar nicht ein, am Heiligabend ohne triftigen Grund eine Lungenentzündung zu riskieren.«
    Während sie innehielt, um sich im Raum umzusehen, studierte Babcock sie mit der üblichen Verwunderung. Heute Abend hatte sie ihre lange, hagere Gestalt in einen uralten Tweedmantel gehüllt, dem Anschein nach ein Herrenmodell, und ihre fliegenden grauen Haarsträhnen wurden von einer marineblauen Wollmütze gebändigt. Ihre Miene jedoch war ernst und unerbittlich wie immer. Aufgrund ihrer Vitalität und Energie hätte er sie auf kaum über sechzig geschätzt, doch ihre Haut war mit einem so dichten Netz feiner Fältchen überzogen, dass sie an gegerbtes Leder erinnerte.
    Als sie an ihm vorbeiging, nahm er einen leisen Hundegeruch wahr. Ohne ihren riesenhaften vierbeinigen Begleiter ging sie nie aus dem Haus; bei jedem Wetter wartete er geduldig auf dem Rücksitz ihres alten, moosgrünen Morris Minor. Das Tier sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Irischen Wolfshund und dem Hund von Baskerville, und Babcock waren Spekulationen zu Ohren gekommen, wonach es in Wirklichkeit ausgestopft und nur auf den Rücksitz montiert worden war, um Diebe abzuschrecken.
    Aber dass der Hund sehr lebendig und nicht etwa das Produkt der Kunst eines Präparators war, konnte Babcock persönlich bezeugen. Ein einziges Mal hatte er den Fehler gemacht, sich von der Rechtsmedizinerin ein Stück mitnehmen zu lassen,
und den ganzen Weg bis zum Revier hatte ihn der heiße Brodem des Biests im Nacken gekitzelt. Er hätte sogar schwören können, dass ihm ein paar Tropfen von seinem Geifer in den Kragen gerieselt waren. Auch in anderer Hinsicht war die Fahrt in Elsworthys Wagen ein Fehler gewesen – die Polster waren derart mit Hundehaaren übersät, dass man ihre ursprüngliche Farbe kaum noch erkennen konnte, und er hatte Tage gebraucht, um seinen Anzug von dem dichten grauen Pelzbesatz zu befreien.
    Heute Abend glaubte er noch etwas anderes als das übliche Eau de Chien an der wackeren Medizinerin wahrzunehmen – nämlich eine leichte Whiskyfahne. Aber in ihren Augen blitzte die gewohnte Intelligenz, und ihr Auftreten war forsch wie eh und je. Hatte sie ein wenig gefeiert?, fragte sich Babcock. Ob zu Hause ein Mr. Elsworthy auf sie wartete? Nicht, dass er es je gewagt hätte, sie so etwas zu fragen – und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie ihn von sich aus ins Vertrauen ziehen

Weitere Kostenlose Bücher