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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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hatte, ergriff eine merkwürdige Euphorie von ihr Besitz. Das Stottern des Motors hatte von selbst wieder aufgehört – vielleicht ein Zeichen, dass sie den richtigen Kurs eingeschlagen hatte.
    In ihre dickste Jacke gehüllt, mit ihrem wärmsten Schal um den Hals, stand sie an der Ruderpinne und lenkte das Boot den Weg zurück, den sie erst am Tag zuvor gekommen war. Der Rauch aus der Kabine wehte ihr ins Gesicht und brannte in ihren Augen, doch sie liebte den Geruch – er war wie die Quintessenz von Wärme und Behaglichkeit in der klaren, kalten Luft. Im Lauf der letzten Jahre hatte sie gelernt, instinktiv zu steuern und durch die leisesten Verlagerungen ihres Gewichts minimale Kurskorrekturen auf das Ruder zu übertragen.
    Sie musste lächeln, wenn sie an ihre ersten unbeholfenen Fahrversuche mit dem Boot zurückdachte. Wie ein Ping-Pong-Ball war sie von einer Ufermauer an die andere geworfen worden. Am schlimmsten war es in den Tunnels gewesen, wo die ungewohnte Dunkelheit die Perspektiven verzerrte, sodass sie ständig überkorrigiert hatte und gegen die feuchten, glitschigen Wände gekracht war.
    Obwohl sie die Tunnels immer noch nicht mochte, hatte sie gelernt, solche Situationen zu meistern, und inzwischen war sie mit der Horizon zu einer Einheit verschmolzen. Das Boot war wie eine Verlängerung ihres Körpers. Es hatte seine eigene Persönlichkeit, seine Stimmungen, und Annie hatte gelernt,
sie zu erspüren. Heute war ein guter Tag, dachte sie; das Ruder reagierte auf ihre Bewegungen wie ein lebendiges Wesen, und der Motor schnurrte wie eine dicke, zufriedene Katze.
    Alle ihre Sinne schienen geschärft. Vielleicht war es nur die alle Geräusche dämpfende Schneedecke, die sie jeden Laut bewusst wahrnehmen ließ, das gleißende Blau des Himmels, das jede Szene vor ihren Augen in kristallklarer Schärfe hervortreten ließ. Der Schnee verwandelte die Landschaft; er verhüllte die vertrauten Konturen und das auch im Winter allgegenwärtige Grün der englischen Wiesen und Felder. Und selbst das, was sie sehen konnte – die Stoppeln auf den Äckern, die verdrehten Äste eines toten Baums, das feine Gitterwerk der kahlen Sträucher, die den Leinpfad säumten -, schien strahlender, intensiver als sonst.
    Sie passierte Hurleston Junction und die reizvolle Aussicht des Llangollen-Kanals, der sich hinunter nach Wales wand, doch ausnahmsweise fand sie den Gedanken an Flucht weniger verlockend als den Kurs, den sie eingeschlagen hatte. Als sie sich Barbridge näherte, kamen die Boote in ihr Blickfeld, die entlang des Leinpfads festgemacht hatten, und ihr Herz schlug schneller, als sie das eine, das sie suchte, am Ende der Reihe entdeckte.
    Sie drosselte die Geschwindigkeit, ließ die Horizon auf einen freien Liegeplatz driften und sprang ans Ufer, um sie zu vertäuen. Nachdem sie die Bug- und die Heckleine an den Pollern festgemacht hatte, klopfte sie sich den Schnee von den Knien und studierte die Daphne .
    Der Holzrumpf des Boots der Wains war unverwechselbar, doch es kam Annie vor, als seien die bunten Farben ein wenig verblasst, das Messing der Schornsteinbänder nicht mehr ganz so glänzend, wie sie es in Erinnerung hatte. Gabriel hatte ihr einmal erzählt, dass die Daphne eines des letzten Boote sei, die in Nursers Werft in Braunston gebaut worden waren.

    Damals, als Annie mit den Wains zu tun gehabt hatte, hatte Rowan das Familieneinkommen aufgebessert, indem sie Boote mit den traditionellen Diamantmustern und Rosenund Burgenmotiven bemalt hatte, und die Daphne war eine schwimmende Reklame für ihre Arbeit gewesen. Rowan hatte auch die als Canalware bekannten Wasserkannen, Schüsseln und Schöpflöffel mit ihren fröhlichen Rosenmotiven verziert.
    Bei ihrem letzten Treffen hatte Rowan Annie einen Schöpflöffel geschenkt, den sie eigens für sie bemalt hatte, und so ihre Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht – etwas, wofür ihr Mann schlicht zu wütend und zu stolz gewesen war.
    Nicht, dass Annie Dank erwartet hätte. Sie hatte doch nur getan, was sie konnte, um das Unrecht wiedergutzumachen, das die Wains bereits erlitten hatten: den skrupellosen Vertrauensbruch durch das System, das sie eigentlich beschützen sollte.
    Zuerst glaubte Annie, die Daphne sei verlassen. Die Vorhänge waren geschlossen, und nichts rührte sich auf dem Boot. Doch dann sah sie ein winziges Rauchfähnchen aus dem Schornstein aufsteigen, und im nächsten Moment erschien Gabriel Wain auf dem Hinterdeck.
    Er setzte zu einem Nicken an,

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