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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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um Weihnachtsgrüße und Geschenke auszutauschen. Rasansky sah nicht aus wie jemand, der sich für Geschichte interessierte.
    »Na ja«, meinte er stattdessen nur, »aber dann müssen wir uns immer noch mit den Weihnachts-Selbstmorden rumschlagen.« Mit dieser aufmunternden Bemerkung betrat er die Leichenhalle, deren Tür sich just in diesem Moment vor ihnen aufgetan hatte.
    Dr. Elsworthys Assistentin, eine kräftige junge Frau mit roten Haaren, führte sie mit den Worten »Sie fängt gerade an« in den Sektionssaal.
    Die Rechtsmedizinerin begrüßte sie mit einem Nicken. In OP-Kittel und Schürze, das flatternde graue Haar mit einer Haube gebändigt, sah sie um Jahre jünger aus, und Babcock fielen zum ersten Mal ihre markanten und ebenmäßigen Gesichtszüge auf. Aber wenn Althea Elsworthy an diesem Morgen ein wenig menschlicher aussah, galt dies keineswegs für den kleinen Körper vor ihr auf dem Untersuchungstisch. Von Decke und Kleidung befreit, erinnerte die Kinderleiche eher an eine zerlumpte Puppe aus Leder und Haaren oder die Überreste eines kleinen Tiers, das zu lange am Straßenrand in der Sonne gelegen hatte. Ihm fiel auf, dass der übliche Gestank fast ganz fehlte – nur einen leichten Modergeruch konnte er wahrnehmen. Das war immerhin eine Erleichterung. Bei dieser Obduktion würde er ausnahmsweise einmal nicht das Kunststück vollbringen müssen, gleichzeitig durch den Mund zu atmen und zu sprechen.

    Als Rasansky den Kopf schüttelte und angewidert die Zähne bleckte, fiel Babcock wieder ein, dass der Sergeant ein kleines Kind zu Hause hatte. Falls er je versucht war, andere Leute um ihren Nachwuchs zu beneiden, war eine Kinderleiche im Sektionssaal das beste Heilmittel.
    Er wandte sich den Röntgenaufnahmen am Leuchtkasten zu, wo das weiße Geflecht der Knochen wie Frost auf schwarzem Samt schimmerte.
    Elsworthy folgte seinem Blick. »Skelett ist intakt«, sagte sie in ihrem typischen Telegrammstil. »Keine Anzeichen von stumpfen Traumata, keine prämortalen Frakturen.«
    »Was bleibt dann noch?«, fragte Babcock.
    »Ersticken. Ertrinken. Vergiftung. Natürliche Todesursachen.« Beim letzten Punkt der Aufzählung bemerkte er ein amüsiertes Blitzen in ihren Augen.
    »Gut.« Babcock reagierte mit einem schiefen Lächeln auf ihren Sarkasmus. »Was ist mit Stich- oder Schnittwunden? Schussverletzungen?«
    »Möglich, aber in dem erhaltenen Gewebe habe ich keine Verletzungen feststellen können, auch keine Absplitterungen an den Knochen. Und ich habe es auch noch so gut wie nie erlebt, dass ein so kleines Kind erschossen oder erstochen wurde. Es könnte natürlich geschüttelt worden sein, aber eventuelle Schwellungen oder Blutergüsse im Gehirn sind verständlicherweise längst nicht mehr nachweisbar.«
    »Sie sagten ›es‹ – können Sie feststellen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt?«
    »Nicht mit letzter Sicherheit. Im Beckenbereich ist kaum organisches Material erhalten, ganz bestimmt nicht genug, um sagen zu können, ob das Kind einen Penis hatte. Und in diesem Alter ist es sehr schwierig, die Skelettstrukturen zu unterscheiden. Aber nach der Kleidung würde ich vermuten, dass es sich um einen weiblichen Säugling handelt. Der DNA-Test
dürfte das klären, aber da werden Sie sich noch gedulden müssen.« Elsworthy wusste, dass Geduld nicht gerade seine Stärke war – das konnte er an ihrem Blick ablesen.
    »Na schön. Also ein Mädchen. Alter?«
    »Nach den Körpermaßen zu urteilen zwischen sechs Monaten und einem Jahr, vielleicht auch achtzehn Monate. Je nach genetischer Veranlagung, Gesundheitszustand und Umwelteinflüssen können die Unterschiede in der Entwicklung enorm sein. Wenn das Kind zum Beispiel unterernährt war, könnte es durchaus weit unter den Normalwerten für Größe und Gewicht liegen.«
    Während sie sprach, wandte sie sich wieder dem Leichnam zu und begann, ihn mit einer Pinzette zu untersuchen. Für eine so resolute Frau ging sie mit verblüffender Behutsamkeit vor.
    »Keine Anzeichen von Insektenfraß«, fuhr sie fort. »Wir können also wohl davon ausgehen, dass das Kind während einer Periode niedriger Temperaturen verstorben ist und bald nach dem Tod beigesetzt wurde.«
    Rasansky meldete sich erstmals zu Wort. »Denken Sie, dass sie misshandelt wurde?«
    »Wie ich eben schon sagte, Sergeant, es gibt keine spezifischen Hinweise«, entgegnete Elsworthy gereizt. »Bei Babys, die misshandelt wurden, findet man in der Regel verheilte Frakturen, aber

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