So will ich schweigen
einem beiläufigen Gruß unter Schiffern, und erstarrte dann. Seine Miene verschloss sich, jeder Ausdruck wich aus seinen Zügen, bis nur der Argwohn in seinen Augen verblieb. Sein dichtes dunkles Haar war jetzt mit Grau gesprenkelt, wie Granit, doch sein Körper war immer noch kräftig. Als Annie Gabriel Wain zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr viel zu massig erschienen für jemanden, der auf einem so schmalen Boot lebte und arbeitete, doch an Bord bewegte er sich so flink und geschmeidig, dass man glauben konnte, er hätte nie einen Fuß an Land gesetzt.
Jetzt stand er da, ein wenig breitbeinig, um das leichte Schaukeln auszugleichen, das seine eigenen Schritte ausgelöst
hatten, und beobachtete sie. Als er sprach, klang es wie eine Kampfansage. »Mrs. Constantine. Sie nach so langer Zeit ein Mal wieder zu sehen, könnte man noch als Zufall durchgehen lassen. Aber zwei Mal in nur zwei Tagen? Was wollen Sie von uns?«
Annie wischte sich einen letzten Rest Schnee von der Hose und richtete sich zu voller Größe auf. »Ich heiße nicht mehr Constantine, Gabriel. Ich heiße jetzt Lebow. Ich habe wieder meinen Mädchennamen angenommen. Und ich bin auch nicht mehr beim Jugendamt. Ich habe gekündigt, nicht lange, nachdem ich mit Ihnen gearbeitet habe. Und habe das Boot gekauft«, fügte sie hinzu und deutete auf die Horizon . Als er lediglich eine Augenbraue hochzog, fuhr sie stockend fort: »Es war eine schöne Überraschung, Sie gestern zu sehen. Die Kinder sehen gut aus. Das freut mich. Aber Rowan – ich dachte mir, ob ich vielleicht mal mit Rowan sprechen könnte. Gestern dachte ich … sie schien mir nicht …«
»Sie muss sich ausruhen. Sie braucht Ihre Einmischung nicht.«
Annie trat einen Schritt näher ans Boot. »Hören Sie, Gabriel, ich verstehe ja Ihre Gefühle. Aber wenn sie krank ist, könnte ich vielleicht helfen. Ich …«
»Sie können überhaupt nicht wissen, was ich fühle«, fiel er ihr ins Wort. Trotz all der aufgestauten Wut war seine Stimme ruhig. »Und sie ist nicht krank. Sie ist nur … sie ist nur müde, sonst nichts.« Da war sie wieder, die Angst, ein Abgrund, der sich hinter seinen Augen auftat; aber diesmal dachte Annie, dass sie nicht der Grund war.
»Sie wissen, dass ich Ihnen schon einmal geholfen habe«, sagte sie etwas bestimmter. »Sie wissen, dass ich auf Ihrer Seite war. Ich wäre vielleicht in der Lage …«
»Auf unserer Seite? Sie – mit Ihrem aufgedonnerten Boot«, er warf einen verächtlichen Blick auf die Horizon und spuckte
in den Kanal, »Sie haben doch keinen blassen Schimmer von unserem Leben. Und jetzt lassen Sie uns in Frieden.«
»Sie können mich nicht einfach vom Leinpfad stoßen, Gabriel.« Sie erkannte die Absurdität ihrer Position, kaum dass die Worte ihr über die Lippen gekommen waren. Was wollte Sie tun? Das Jugendamt anrufen?
»Nein.« Zum ersten Mal spielte ein Anflug von bitterem Humor um seine Mundwinkel. »Aber ich kann einen guten Liegeplatz aufgeben, wenn Sie nicht aufhören, uns auf den Wecker zu fallen.«
Und sie könnte die Horizon losmachen und ihnen folgen. Annie hatte das absurde Bild vor Augen, wie sie mit drei Meilen in der Stunde den Kanal entlangtuckerte und der Daphne nachsetzte, eine Zeitlupenversion der Verfolgungsjagden in amerikanischen Filmen. Sie seufzte, und während die Anspannung allmählich aus ihren Schultern wich, sagte sie: »Gabriel, ich weiß, dass es falsch war, was mit Ihrer Familie geschehen ist. Ich will nur … nun ja, ich will es nur irgendwie wieder gutmachen.«
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten.« In seiner Miene lag eine so trostlose Endgültigkeit, dass sie sich seinen Zorn zurückgewünscht hätte. »Und jetzt …«
Die Kabinentür hatte sich einen Spalt breit geöffnet. Das kleine Mädchen schlüpfte heraus, und Gabriel drehte sich überrascht um, als sie an seinem Hosenbein zupfte. Sie war hellhäutiger, als Annie sie von gestern in Erinnerung hatte, und im klaren Licht des Tages waren ihre Augen strahlend blau. »Papi«, flüsterte sie. »Mami will die Frau sehen.«
Entgegen Gemmas Befürchtungen war es doch noch ein nahezu perfektes Weihnachtsfest geworden. Sie hatte sich ein wenig für ihre Erleichterung geschämt, als sie erfahren hatte, dass Juliet und Caspar mit ihren Kindern bei Caspars Eltern essen
würden. Sie empfand tiefes Mitleid mit Juliet – wie hielt sie das alles aus, nach Caspars unmöglichem Verhalten gestern Abend? -, doch sie wollte auch nicht, dass der Ehekrach der
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