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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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Fällen statistisch gesehen absurd war. Alle betroffenen Familien kamen aus den unteren Einkommensschichten, alle hatten ihre Kinder in Pflegefamilien geben müssen.
    Annie hatte natürlich empfohlen, Joseph und Marie Wain nicht auf die Liste der »gefährdeten« Kinder zu setzen oder sie zu Pflegeeltern zu geben. Josephs Zustand verbesserte sich darüber hinaus zusehends, und andere Ärzte, die Annie befragt hatte, versicherten ihr, dass dies nicht ungewöhnlich sei – bei Kindern würden oft ungeahnte Selbstheilungskräfte während ihrer natürlichen Entwicklung wirken.
    Sie hatte auch gegen den betreffenden Arzt offiziell Beschwerde eingelegt, doch die Krankenhausleitung hatte nichts unternommen. Und allen Bemühungen Annies zum Trotz stand in Rowan Wains Patientenunterlagen immer noch die Diagnose MSS. Das Stigma der Kindesmisshandlung und der psychischen Störung hing ihr nach wie vor an, ein unauslöschliches Kainsmal.
    Jetzt tätschelte Annie beschwichtigend Rowans Hand. »Es gibt keinen Grund, weshalb irgendjemand sich für die Kinder interessieren sollte«, sagte sie, doch im Geiste ging sie schon die möglichen Szenarien durch. Was, wenn Rowan ernsthaft, ja unheilbar krank war? Was, wenn irgendein übereifriger Arzt oder eine Krankenschwester sich ihre Akte ansah und entschied, dass Rowan – oder Gabriel, falls Rowan stürbe – nicht in angemessener Weise für die Kinder sorgen könnte? Dann könnte alles wieder von vorne losgehen, und diesmal wäre sie nicht in der Lage, die Familie zu schützen.
    Rowan schüttelte nur den Kopf, als hätte das Reden sie zu sehr erschöpft.
    Mit wachsender Panik wandte Annie sich zu Gabriel um. »Sie müssen doch sehen, dass es nicht so weitergehen kann. Sie müssen etwas unternehmen.« Der Anblick der zwei verängstigten
Kindergesichter hatte sie davon abgehalten, hinzuzufügen: »Sonst muss sie vielleicht sterben.« Doch Gabriels Blick sagte ihr, dass er Bescheid wusste. Er wusste Bescheid, aber er konnte nicht riskieren, seine Kinder zu verlieren, und das Dilemma drohte ihn zu zerreißen.
    »Keine Krankenhäuser«, wiederholte er, doch er klang längst nicht mehr so entschlossen, und sein wettergegerbtes Gesicht war von Angst gezeichnet.
    Keine Krankenhäuser . Eine Idee setzte sich in Annies Kopf fest. Es könnte funktionieren – zumindest würden sie dann wissen, womit sie es zu tun hatten.
    Sie drückte Rowans Hand, dann wandte sie sich zu Gabriel um. »Und wenn … wenn ich jemanden finden würde, der herkommen und sich Rowan anschauen kann? Ganz inoffiziell und vertraulich?«
     
    »Ich bin mir sicher, dass es keinen Grund zur Sorge gibt«, sagte Kincaid. »Du kennst doch Jules und ihr Temperament – nach gestern Abend überrascht es mich gar nicht, dass sie das Weihnachtsessen mit Caspar nicht durchstehen konnte. Und sie hat sich immer schon gerne irgendwo verkrochen, wenn sie schlecht drauf war.«
    Nach dem Gespräch mit Lally hatte seine Mutter vergeblich versucht, Juliet zu Hause oder auf ihrem Handy zu erreichen. Lallys flehentlichen Bitten zum Trotz hatte sie anschließend Caspar angerufen, um sich von ihm bestätigen zu lassen, was das Mädchen erzählt hatte. Rosemary hatte mit fest zusammengepressten Lippen gelauscht und dann den Hörer unnötig heftig auf die Gabel geknallt. »Er sagt, es stimmt«, hatte sie vermeldet. »Juliet hat ohne ein Wort der Erklärung das Haus verlassen, noch bevor das Essen auf dem Tisch stand. Er sagt, sie wollte ihnen allen absichtlich den Abend verderben.«
    Jetzt schüttelte sie nur den Kopf. »Das gefällt mir ganz und
gar nicht.« Die Sorge verdüsterte ihre Augen, und zum ersten Mal registrierte Kincaid betroffen, wie sehr sie gealtert war, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte.
    Gemma hatte sich wieder dem Abwasch zugewandt, doch er konnte sehen, dass sie aufmerksam zuhörte. Eine Haarsträhne hatte sich aus der Klammer gelöst und kringelte sich feucht an ihrer Wange, doch er stand zu weit weg, um sie mit einer unauffälligen Handbewegung zurückstreichen zu können.
    Sein Vater war in die Küche gekommen und stand neben seiner Mutter; Toby hatte sich vom Tisch davongeschlichen und es sich auf dem Hundeplatz bequem gemacht, wo er sich abwechselnd mit den drei Hunden balgte und Geordies lange Ohren streichelte. Und Kit – Kit beobachtete sie alle, und in seinen Augen flackerte Angst.
    Kincaids Job brachte es mit sich, dass er manchmal in den alltäglichsten Situationen automatisch die potenzielle Tragödie sah;

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