So zärtlich war das Ruhrgebiet
erahnte ich die Unmöglichkeit meines Unterfangens und gab, nicht
zuletzt, weil mir die Tinte ausgegangen war, überreizt und müde auf.
Aber noch etwas geschah in diesem Jahr. Über New York und
London war eine völlig neue Musik nun auch nach Deutschland gekommen. Ab und an
tauchten die dazugehörigen Künstler plötzlich in Sendungen wie „Disco“,
„Plattenküche“ oder „Musikladen“ auf, und in der Zeitschrift „Bravo“ gab es ein
Poster der Sex Pistols, die sich in einem Song über die englische Königin
lustig gemacht hatten. Auf die Frage nach ihrem Lieblingsessen gaben die
Musiker Kaugummi an. Punk nannte sich ihre Musik, und die Fans steckten sich
Sicherheitsnadeln in die Wangen, trugen Irokesenfrisuren und zerrissene
Kleidung. Sie sahen aus, als würden sie in Mülltonnen leben. Die Musik selbst
klang roh und fremdartig und unglaublich kaputt. Michael Hartwig, mein Freund
aus Grundschultagen, war der erste, der mich mit ihr in Berührung brachte. Als ich
ihn in der Straßenbahn traf, trug er eine Platte der Adverts unter dem Arm.
Deren Musiker sahen wirklich grauenhaft aus.
In der Diskothek auf WDR 2 tauchte diese Musik allerdings
noch nicht auf; dort wurden weiterhin Bands wie Fleetwood Mac, Uriah Heep, ELO
oder Supertramp vom Moderator Mal Sondock gespielt. Er stellte neue Platten
vor, die man per Postkartenabstimmung in die nächste Sendung wählen konnte. Ich
stimmte für Led Zeppelin, auch wenn sie gar nicht gespielt worden waren. Als
guter Fan war ich ihnen das schließlich schuldig. Einmal stimmte ich aber auch
für Kate Bush. In die nämlich war ich ein wenig verliebt.
Im evangelischen Gemeindehaus machte eine Teestube auf,
die von den Jugendlichen, die sie besuchten, selbst betrieben wurde. Kerzenlicht
beleuchtete den Raum, und aus dem Kassettenrekorder krochen schauerliche Lieder
von Gordon Lightfoot oder Cat Stevens hervor. Dafür waren Mädchen da, und das
gab eindeutig den Ausschlag, dort ebenfalls jeden Dienstagnachmittag
aufzutauchen und literweise zu dünnen Tee zu trinken, der nach Seife,
ätherischen Ölen und Räucherkerzen schmeckte. Statt mit richtigem Zucker wurde
er mit Kandis gesüßt. So ein Betrug! Als ich versuchte, eine
Led-Zeppelin-Kassette in den Rekorder zu schmuggeln, wurde ich sanft, aber
resolut zur Ordnung gerufen. Wahrscheinlich war ihre Musik zu sündig und darum
nur bei den Katholiken erlaubt.
Manchmal ging ich nach dem Schulschwimmunterricht im
Nordbad mit vom vielen Chlor geröteten Augen zur Münsterstraße hinüber, um im
„Nordgrill“, wo Tante Anna arbeitete, eine Currywurst-Pommes und ein paar
Zigaretten abzustauben. Manchmal nahm ich auch Guido Niebecker mit, und Tante
Anna spendierte auch ihm Currywurst-Pommes. Die ihm angebotenen Reval ohne aber
lehnte er ab.
Tante Anna war die Mutter meiner Cousinen Danny und
Trixie und war als Verbrecherjägerin berühmt. Dreimal hatten Unvorsichtige
versucht, den „Nordgrill“ zu überfallen und die Tageseinahmen zu stehlen, und
dreimal hatte Tante Anna die Männer mit einem langen Hähnchengrillspieß
verprügelt und der Polizei übergeben. Auch der Kerl, der vor der Schule meiner
Cousinen Drogen verkaufte, musste nach einer langen Verfolgungsjagd durch die
Nordstadt kapitulieren und verbrachte die folgenden Tage in der Klinik, wo er
unglücklicherweise auch noch Besuch von Onkel Catcher erhielt. In einer kurzen,
rein physikalisch geführten Unterredung legte Onkel Catcher dem Drogendealer
noch einmal seine persönliche Abneigung für diese Art des Gelderwerbs dar. Die
vor der Tür Wache stehende Polizei hatte Onkel Catchers Erscheinen in der
Klinik dazu genutzt, sich in der Klinikkantine schnell mal einen Kaffee zu
besorgen. Als sie zurückkamen wurde der Mann, den sie bewachen sollten, soeben
auf die Intensiv verlegt. Fluchtgefahr bestand nun keine mehr, und sie wurden
abgezogen.
Der Dealer wurde nach seiner Entlassung aus dem
Krankenhaus später zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt – seine
Krankenodyssee war damit aber noch lange nicht beendet. Als er zufälligerweise ausgerechnet
in der „Kleinen Postkutsche“ erschien, traf er erneut auf Onkel Catcher, der
daraufhin die Tür von innen verriegelte und seinen Bruder Manni bat, schon mal
den Notarzt zu rufen, der neu eingetretene Gast brauche ihn gleich, es sei nämlich
der Drecksack, der versucht habe, Schulkindern Drogen zu verkaufen. Das hörten
weder Onkel Manni noch die anderen Gäste gern, unter ihnen
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