So zärtlich war das Ruhrgebiet
dem Waldrand entgegen. Unsere einhellige
Meinung: Das Leben war schön. Mit der einen kleinen Einschränkung vielleicht,
dass es im Wald keine Laternen gab. Es war absolut finster. Immer wieder
knallten wir mit Schmackes gegen die Bäume und lachten.
„Fühl ma!“, sagte Michael. „Ich hab’ schon drei große
Beulen auf meiner Stirn.“
Ohne Orientierung taumelten wir durch den
nächtlichen Wald und leerten die Flasche. Schließlich fielen wir entkräftet ins
Farn, erzählten uns lallend alberne Witze und lobten die Klugheit und den
Charakter meiner Mutter. Als wir plötzlich eine laute Stimme hörten.
„Verdammtes Schrankbett!“, fluchte die Stimme.
Dann rief sie wütend meinen Namen.
„Hömma“, lallte ich. „Das ’s mein Vatter. Wenn wa
Glück haben, hatter `ne neue Flasche Whisky dabei.“
Hatte mein Vater aber nicht, sondern vielmehr
Herrn Springer im Schlepptau, der angesichts des Zustands, in dem sie sich sein
Nachwuchs befand, nur mäßige Begeisterung zeigte.
„Das ist alles nur Ihre Frau ihre Schuld!“,
sagte er. „Wie dumm muss man eigentlich sein, Vierzehnjährigen ’ne Flasche
Whisky zu geben …“
„Nennen Sie meine Frau nicht dumm. Sie wollte
den Jungens bloß was Gutes tun!“
„Ach, Sie können mich mal. Wer gibt
Vierzehnjährigen denn Whiskey? So jemand hat für mich nicht alle Tassen im
Schrank …“
Weiter kam Herr Springer nicht. Die Faust meines
Vaters hatte ihn getroffen. Wir hörten, wir Herr Springer auf den Waldboden
fiel. Wild fluchend lud ihn sich mein Vater auf die Schulter und trieb uns vor
sich her.
Gar keine Frage: Geburtstagsfeten
waren klasse. Ich konnte es gar nicht erwarten, im nächsten Jahr wieder zu
feiern.
In der Schule zeigte ich nach wie vor in allen Fächern
ausgeglichene Leistungen, das heißt, ich stand überall vier, außer in Sport.
Alles wäre gut und harmonisch gewesen, hätte mir nicht Martin Woyschewski das
Leben zur Hölle gemacht. Er warf mein Etui aus dem Fenster und meine
Hausaufgaben ins Klo. Er nahm mir mein Taschengeld ab und zertrat meine Brote.
Als er jedoch eines Tages meine Schultasche unter den Hahn des Waschbeckens
hielt, war es genug. Ich ging zu ihm und schlug ihm mit aller Kraft, die ich
aufbringen konnte, meine Faust ins Gesicht. Woyschewski stolperte, ging zu
Boden, und ich setzte nach. Alle sahen es: Woyschewski, der Klassenrowdy, bekam
von einem Mitglied der Aussätzigenkaste eine Tracht Prügel verpasst.
Ehe er zurückschlagen konnte,
betrat Frau Pape die Klasse.
„Dich mach’ ich fertig!“, zischte Woyschewski
mir zu.
Nach der Schule fing er mich ab, um sein
Versprechen einzulösen. Aber es gab ein Problem für Woyschewski: Niemand sah
zu, als er seine Rache an mir vollzog. Ich blieb der, der Woyschewski, den
Schläger, in die Knie gezwungen hatte Am nächsten Schultag nahm ich
Woyschewskis Schultasche, warf sie in die Ecke und setzte mich auf seinen
Platz. Er versuchte aufzubegehren, aber Ulrich Kuffel, der bereits seine zweite
Ehrenrunde drehte und der Größte in der Klasse war, wies ihn in die Schranken.
„Den Kowalski lässt du in Ruhe!“
Von nun an war mein Leben ein anderes. Ich war ein
Ex-Loser, der plötzlich in der ersten Liga mitmischen durfte, und es dauerte
gar nicht lange, bis mir Woyschewski verzieh und in der Schulhoftoilette
zeigte, wie man Zigaretten dreht. Ich hing nun meistens mit ihm, Rüdiger Leifeld
und Ulrich Kuffel herum, der weiterhin seine schützende Hand über mich hielt.
Die Zeiten, in denen man mich in den Müllcontainer warf und den Deckel mit
einem Holzstück verkeilte, damit ich ihn von innen selbst nicht aufbekam, waren
vorbei.
Ulrich Kuffel war zu diesem Zeitpunkt bereits sechzehn
und hatte eine Tätowierung auf dem linken Arm, ein schattiertes Kreuz, das er
sich selbst gestochen hatte. Morgens schlief er im Unterricht bisweilen ein,
weil er nachts in einem Laden nahe der Brückstraße Platten auflegte. Kuffel war
DJ, was ihn in unseren Augen zu einer Art Halbgott werden ließ. Ich machte für
ihn die Hausgaben mit, und er revanchierte sich, indem er mich eines Abends mit
in den „Tom TomClub“ nahm. Das war ein völlig andere Welt als auf den Konzerten
von Guru Guru oder Embyro! Einer der Kellner war ganz in Rosa gekleidet und
wurde Erdbeer-Didi genannt,
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