Socrates - Der friedvolle Krieger
Brief an seinen Onkel unter sein Kissen. Irgendjemand würde ihn dort finden. Sein Onkel würde sicherlich die besten Fährtenleser aussenden, um ihn zu suchen. Vielleicht sogar einen der Instruktoren. Aber sie würden ihn nicht finden, dazu hatten sie ihn viel zu gut ausgebildet.
Noch einmal überdachte er seinen Fluchtplan. Als Erstes musste er an den Wachen vorbei, aber das war kein Problem, da er ihre Routine gut genug kannte. Und beim letzten Bad im See hatte er einen Baumstamm im flachen Wasser liegen sehen.
Plötzlich schreckte Sergej hoch. Wie spät ist es? , dachte er. Habe ich etwa verschlafen? Er kletterte leise aus dem Bett und sah durch das Fenster auf den Mond. Dieser ging immer noch auf und hatte fast seinen höchsten Punkt erreicht. Es wurde höchste Zeit. Sergej hob seinen Rucksack auf und schlich sich barfuss mit seinen Stiefeln in der Hand aus der Stube. Wie ein Schatten bewegte er sich entlang der Wände, um das Quietschen der Bodendielen zu vermeiden, dann den langen Korridor entlang, wo er unter der Tür seines Onkels noch Licht hindurchscheinen sah. Er öffnete die alte Eichentür und lief leichtfüßig die steinerne Treppe hinunter. Erst im Tunnel zog er seine Stiefel an und rannte los. Der abschüssige Tunnel war mehrere hundert Meter lang und verlief direkt unter dem Anstaltsgelände hin zum See.
Als Sergej schließlich ins Mondlicht hinaus und ans Ufer des Sees trat, klopfte sein Herz sowohl vor Aufregung als auch vor Anstrengung. Bis jetzt war alles gut gegangen. Das Schwappen der Wellen schien außergewöhnlich laut zu sein, weil außer dem Schrei eines fernen Eistauchers kein anderes Geräusch zu hören war. Der Schrei des Vogels berührte das Herz des jungen Mannes, der ganz allein in der Nacht stand.
Sergej holte tief Luft und marschierte dorthin, wo er den Baumstamm gesehen hatte. Aber er war nicht da. Und er konnte ihn auch in der Nähe nicht finden. Da der Wind nach Norden blies, schlich er leise in diese Richtung und suchte in den hohen Gräsern und dem Schilf nach dem Stamm. Als sich der sandige Boden schließlich in Uferschlamm verwandelte, machten seine Stiefel bei jedem Schritt schmatzende Geräusche.
Dankbar für das schwache Licht des abnehmenden Mondes, kniete er sich inmitten des Schilfes hin und spähte in alle Richtungen, falls der Baumstamm hierher getrieben worden sein sollte. Schließlich entdeckte er den bereits vermodernden Stamm. Er hoffte nur, dass dieser sich nicht so vollgesaugt hatte, dass er nicht mehr schwimmen konnte.
In diesem Augenblick hörte Sergej, dass jemand ganz in der Nähe vorbeiging. Er verharrte inmitten des Schilfes in der Hocke und lauschte. Von einem Augenblick auf den anderen verwandelte sich seine Begeisterung über die gelungene Flucht in blankes Entsetzen, als er erkannte, wer da auf ihn zukam. In seiner Kehle stieg bittere Galle auf. War ihm Sakoljew gefolgt oder war dies nur ein unglücklicher Zufall?
Auch Sakoljew trug einen Rucksack. War er ausgerechnet in derselben Nacht desertiert wie Sergej? Sakoljew sah angestrengt nach vorn, so als ob er etwas suchen würde - oder jemanden. Sergej musste sich innerhalb weniger Sekunden entscheiden, ob er sich weiter verstecken und Sakoljew vorübergehen lassen sollte oder ob er aufspringen und die Konfrontation mit seinem Feind suchen sollte. Ersteres schien klüger zu sein, denn wenn er ihn vorbeigehen ließe, würde es nicht zu einer erneuten Konfrontation kommen. Andererseits würde er dann niemals erfahren, was Sakoljew hier draußen machte. Während Sergej noch Vorsicht gegen Neugierde abwog, kam Sakoljew immer näher. Noch ein paar Meter, dann würde er an Sergej vorbeigegangen sein.
Aber dann sah Sergej im schwachen Licht des Mondes die Kette um Sakoljews Hals glitzern und traf eine Entscheidung. Er stand auf und rief gerade laut genug, dass ihn der andere hören konnte: »Dimitri Sakoljew!«
Sakoljew fuhr herum, schien aber nicht sonderlich überrascht zu sein, Sergej hier zu sehen. »So, so«, sagte er sarkastisch, »wir machen wohl einen kleinen Abendbummel, wie?«
Sergej erwiderte nichts, sondern starrte nur in die unheimlichen Augen des anderen, während er langsam auf ihn zuging. Er konnte nur an eines denken. »Gib mir das Medaillon, dann geh deines Weges, von mir aus in die Hölle!«
Er hatte lauter gesprochen, als er es eigentlich vorgehabt hatte, aber seine Stimme würde im sich verdichtenden Nebel nicht weit tragen.
Sakoljew lächelte wieder und schüttelte den
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