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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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er vom Baumstamm ab und watete erst durch das hüfttiefe Wasser, dann durch das dichte Schilf und schließlich die Uferböschung hinauf.
    Seine Zähne klapperten und sein ganzer Körper zitterte vor Kälte, als er vorsichtig über den kiesigen Strand ging. Nachdem er hundert Meter weit nach Osten gegangen war, begann sich sein Blut langsam wieder zu erwärmen. Aber wo war die Flussmündung? Er hielt inne und lauschte angestrengt. Und tatsächlich, direkt vor sich hörte er das Geräusch von fließendem Wasser. Auf allen vieren kroch er durch das Schilfdickicht und fand den Fluss.
    Sergej watete durch das flache Flussbett und ging auf der anderen Seite hundert Meter nach Süden, dann kehrte er an einer felsigen Stelle, an der man seine Fußspuren nicht mehr sehen konnte, um und ging rückwärts in seinen eigenen Spuren zurück zum Fluss. Die falsche Fährte würde mögliche Verfolger einige Zeit lang ablenken. Sergej watete flussaufwärts, bevor er sich schließlich nach Osten wandte.
    Wäre er nur ein Deserteur gewesen, hätte man die Suche wahrscheinlich bald eingestellt, aber Sakoljews Tod änderte alles. Er würde nicht mehr nach Sankt Petersburg gehen können, denn die Anstalt würde die dortigen Behörden sicherlich informieren. Er würde erst einmal nicht nach dem Schatz seines Großvaters suchen können. Und er würde auch nicht gleich nach Amerika fliehen können, um sich dort ein neues Leben aufzubauen und dem rachsüchtigen Geist von Dimitri Sakoljew zu entkommen. All das würde ein oder zwei Jahre warten müssen.
    Sergej kehrte etwa tausend Meter von der Anstalt entfernt noch einmal um, bevor er sich schließlich endgültig nach Osten richtete. Später ging er durch den Wald nach Süden und in die Hügel hinein. In der Ferne hörte er einen einsamen Wolf heulen. Er fühlte sich selbst wie ein Wolf, als er durch die Nacht lief, um vor Anbruch des neuen Tages ein möglichst großes Stück des Weges zwischen sich und die Anstalt zu bringen.
    Er hatte einmal Geschichten über mongolische und tibetische Mönche gehört, die Hunderte von Kilometern in der Dunkelheit der Nacht laufen konnten und dabei direkt in den Himmel blickten. Sergej versuchte gar nicht erst, es ihnen gleichzutun. Er lief, ging, lief wieder und starrte dabei angestrengt vor sich in die Dunkelheit.
    Sergej hoffte, dass der neue Tag auch die Finsternis seiner Seele erleuchten würde, denn er hatte jede Orientierung verloren. Wie konnte das alles nur geschehen? , fragte er sich immer und immer wieder. Noch vor sieben Stunden war alles gut, mein Leben war festen Regeln unterworfen. Ich war ein Elitekadett, wurde von Instruktoren und Kadetten gleichermaßen respektiert. Ich hatte einen Freund - Andrej - und ein bequemes Bett …
    Hatte er wirklich das Richtige getan oder hatte er den schlimmsten Fehler seines Lebens begangen?
    Dann dachte er, Ich habe getan, was getan werden musste . Er wagte es nicht, sich die Alternative - »Judendienst« - auch nur vorzustellen. Nein, er bereute es nicht, dass er desertiert war, aber er hatte nicht vorgehabt, dabei jemanden umzubringen.
    In ein paar Stunden würde man ihn jagen. Seine einzige Chance bestand darin, sich in die Einsamkeit der weit entfernten georgischen Berge zurückzuziehen, die zwölfhundert Kilometer weiter südöstlich lagen. Dort würde er Zuflucht suchen.
     
    Und so begann im Frühjahr 1888 Sergejs Reise, die ihn zunächst an kleineren Flüssen entlang bis zur großen Wolga führen sollte. In den ersten Tagen seiner Flucht sah er sich häufig um, weil er das Gefühl hatte, von Soldaten oder Geistern verfolgt zu werden. Jede Nacht kämpfte er im Traum mit Schattengestalten, jeden Morgen sprang er in den Fluss, um sich die Spuren der Nacht abzuwaschen. Am späten Nachmittag baute er sich einen einfachen Unterstand, jagte oder fischte.
    Als Sergej ein paar Wochen später die Wolga erreicht hatte, fand er ein verlassenes Ruderboot, das in einem Gebüsch versteckt nahe am Ufer lag. Es hatte zwar mehrere Löcher, aber es gelang ihm, diese mit Baumharz abzudichten. Bald darauf ruderte er flussabwärts. Die Tage vergingen und er gewöhnte sich an den steten Rhythmus des eintauchenden Paddels. Sein Leben wurde eins mit dem des Flusses und er verlor jedes Zeitgefühl.
    Oft sprang Sergej ins kalte Wasser, um zu baden. Er wickelte ein Stück Schnur um seinen Knöchel und das andere Ende an das Boot, damit es nicht abgetrieben würde. Wenn dann das klare Wasser den Schweiß abgewaschen und seine

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