Socrates - Der friedvolle Krieger
guter Mann. Du wirst es ihm gleichtun. Aber ich glaube nicht, dass du jemals ein Soldat werden wirst.«
Als er diese letzten Worte hörte, verspürte Sergej eine tiefe Enttäuschung, die sich aber sofort auflöste, als er sah, dass Alexej ihn auf eine Weise anlächelte, wie man nur einen guten Freund anlächelt. Und bevor Sergej irgendetwas sagen oder ihm für seinen Rat danken konnte, trat Alexej Orlow zurück in den Schatten und war verschwunden.
Am nächsten Morgen besuchte Andrej Sergej wieder und überbrachte ihm die Neuigkeiten. »Alexej der Kosak ist weg! Er musste sich beim Zaren melden und ist noch vor Tagesanbruch aufgebrochen. Instruktor Brodinow übernimmt unsere Ausbildung. Kommandant Iwanow überbrachte uns Grüße von Orlow und sagte - mal sehen, ob ich es genauso sagen kann wie er: ›So ist das Leben eines Soldaten. Menschen tauchen auf, Menschen verschwinden. Im Gefecht mögen neben uns die Kameraden sterben, aber wir müssen weitermachen, ohne einen Augenblick zu zögern.‹ Dann gab er uns den Rest des Tages frei. Und so konnte ich zu dir kommen, Sergej. Weißt du was, ich glaube fast, Kommandant Iwanow vermisst Instruktor Orlow.«
Nicht so sehr wie ich , dachte Sergej. Nicht so sehr wie ich .
10
A n jenem Tag im Januar 1888, an dem Sergej aus dem Lazarett kam und Sakoljews Stubenarrest endete, war es bitterkalt. Sergej, der immer noch fest entschlossen war, das Medaillon zurückzubekommen, hatte genug Zeit gehabt, seine Möglichkeiten zu überdenken. Er hatte die Sinnlosigkeit einer erneuten Konfrontation erkannt, bei der er entweder wieder zusammengeschlagen werden würde oder Sakoljew mit etwas Glück besiegte. Aber so oder so, Sakoljew würde ihm nie sagen, wo er das Medaillon versteckt hatte.
Am klügsten war es wohl, einfach abzuwarten. Er würde Geduld haben, aber er würde sein Vorhaben niemals aufgeben. Sergej wusste, dass er sich einen schrecklichen Gegner gemacht hatte. Aber das hatte auch Sakoljew.
Seit der Nacht, in der er von Alexej besucht worden war, hatte sich in Sergej etwas verändert. Es kam ihm vor, als sei ein Teil seines Geistes mit Alexej fortgegangen. Er fühlte sich der Schule immer mehr entfremdet, so als ob er nun ein Beobachter und kein Teilnehmer mehr wäre.
In den folgenden Monaten verbrachte Sergej immer mehr Zeit allein und zog sich in jeder freien Minute in die Bibliothek seines Onkels zurück. Dort drehte er den Globus und starrte ihn fasziniert an, während seine Finger die Grenzen Russlands nachzeichneten.
Kurz nachdem es angefangen hatte zu tauen, saß Sergej eines Tages wieder in der Bibliothek und las in Platos Dialogen des Socrates, als etwas Merkwürdiges geschah: Vor seinem geistigen Auge erschien das Gesicht eines Mannes. Es war ein vom Leben gezeichnetes grobes Gesicht mit einer Nase, die aussah, als wäre sie einmal gebrochen worden. Das Kinn und die Wangen waren von einem Bart bedeckt und das lockige Haar war wirr. Dennoch besaß das Gesicht eine Aura der Kraft und Integrität. Die Augen des Mannes erinnerten Sergej irgendwie an Blitz und Donner.
Dann hörte Sergej den Mann sprechen: »Ich bin weder ein Bürger von Athen noch von Griechenland, ich bin ein Bürger der Welt.« Plötzlich dämmerte es Sergej, dass er eine Vision von Socrates hatte. Dann sprach die Erscheinung Worte, die in Sergejs Ohren noch seltsamer klangen. »Eine neue Welt wartet im Westen.«
Dann war es wieder still. Sergej war zurück in der Bibliothek seines Onkels in der Newski-Kadettenanstalt. Er hatte keine Ahnung, was geschehen war oder warum. Er konnte nicht glauben, dass der Geist des griechischen Philosophen ihn tatsächlich aufgesucht und zu ihm gesprochen hatte. Die Worte waren nicht auf Griechisch gesprochen worden, sondern in seiner eigenen Sprache, auf Russisch. Als er an die Worte dachte, fragte er sich verwundert: Welche neue Welt? Wo im Westen? Dann erinnerte er sich daran, dass Andrej ihm vor Jahren einmal erzählt hatte, dass er weit im Westen jenseits des Meeres in einem Land namens Amerika geboren worden war.
In der Hoffnung auf eine neue Vision schlug er noch einmal die Seiten auf, die er zuletzt gelesen hatte. Aber was er in den Händen hielt, war nur ein ganz gewöhnliches Buch. Vielleicht war es aber doch nicht ganz so gewöhnlich, denn immerhin handelte es von seinem Namensvetter. Er stellte es ins Regal zurück und wollte gerade gehen, als sein Blick auf den Schreibtisch seines Onkels fiel, auf dem ein Brief lag, der sehr offiziell wirkte.
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