Socrates - Der friedvolle Krieger
das trotz der immer häufiger auftretenden Ohnmachtsanfälle und der bleiernen Erschöpfung, die sich in ihren Knochen ausgebreitet hatte.
Natalja zog den Schal fester um die Schultern, weil ihr kalt war. Sie fragte sich, wie kleine Jungen es fertig bringen, an einem so kalten Abend wie diesem draußen zu spielen. Sie lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Sascha! Anatoli! Es wird bald regnen. Kommt jetzt rein!« Ihre müde Stimme war gegen den Wind kaum zu hören. Außerdem hörten die Ohren sechsjähriger Jungen sowieso nur das, was sie hören wollten.
Mit einem Seufzer setzte sich Natalja wieder auf das Sofa, auf dem sie sich mit Jana unterhalten hatte, und machte sich daran, ihr langes schwarzes Haar zu bürsten. Schon bald würde Sergej heimkommen. Für ihn wollte sie so schön wie möglich aussehen.
In diesem Moment sagte Jana: »Ruh du dich aus, Natalja. Ich gehe nach unten und hole die Jungen rein.« Während ihre Freundin nach unten ging, hörte Natalja das Geräusch der Regentropfen auf dem Dach und dann direkt über ihr etwas noch anderes: das Trippeln kleiner Füße und verschwörerisches Kichern. Sie sind wieder mal am Spalier hochgeklettert , dachte sie. In einer Mischung aus Zorn und Angst, die alle Mütter von kleinen Jungen kennen, die sich für unverwundbar halten, rief sie nach oben: »Ihr kommt auf der Stelle vom Dach herunter! Und seid vorsichtig!«
Als Antwort hörte sie nur Gelächter und andere Geräusche, die darauf schließen ließen, dass die Jungen oben miteinander rangen.
»Sascha, wenn du nicht sofort runterkommst, sag ich es deinem Vater!«
»Ja, Mamutschka«, rief Sascha mit zuckersüßer Stimme. »Bitte sag Vater nichts.« Darauf folgte weiteres Lachen.
Als Natalja sich umdrehte, um die Bürste wegzulegen, verwandelte sich das Gelächter der Jungen plötzlich in angsterfülltes Kreischen. Einen Augenblick später war es totenstill.
Als Natalja zum Fenster rannte und hinaussah, sah sie zu ihrem Entsetzen dort unten zwei kleine Körper liegen. Sie war wie gelähmt und konnte nur starren und starren. Dann begann Anatoli, sich zu bewegen und zu weinen. Aber Sascha lag mit verdrehten Gliedmaßen weiterhin still da. Jana, die gerade aus der Haustür trat, rannte zu den Jungen hinüber.
Nur einen Wimpernschlag später war Natalja ebenfalls draußen und kniete im Schlamm. Sie spürte weder den Regen noch ihren schweren Bauch. Sie hielt den leblosen Körper ihres Sohnes in den Armen und während ihr Tränen und Regentropfen übers Gesicht strömten, schaukelte sie im ewigen Rhythmus mütterlichen Schmerzes vor und zurück.
Plötzlich riss sie ein stechender Schmerz im Unterleib zurück in die Gegenwart und sie wurde sich bewusst, dass Jana und ein Mann neben ihr standen und zu ihr sprachen. Während Jana ihr auf die Beine half, versuchte der Mann, ihr die Last des toten Sohnes abzunehmen. Natalja wehrte sich zuerst, aber als der schrille Schrei eines Jungen ertönte, erstarrte sie. Voller Hoffnung schaute sie ihren Sascha an, aber es war Anatoli, der geschrien hatte, weil sein Bein gebrochen war und er nach dem ersten Schock nun den Schmerz zu spüren begann.
Jana Waslakowa half Natalja gerade ins Haus, als der Schmerz sie wieder überkam. Sie krümmte sich und brach noch im Hausflur zusammen. »Wo ist mein Sascha?«, fragte sie mit müder Stimme. »Er soll hereinkommen, es ist doch so kalt, so furchtbar kalt.«
Als sie wieder zu sich kam, lag sie umsorgt von der Hebamme im Bett. Und plötzlich kam ihr der Gedanke: Das Baby kommt … Es ist viel zu früh … Zwei Monate zu früh. Oder sind inzwischen Wochen vergangen? Wo bin ich nur? Wo ist Sergej? Er wird mir sagen, dass dies alles nur ein böser Traum ist. Sergej wird mich anlächeln, über mein Haar streichen und mir sagen, dass es Sascha gut geht … dass alles gut ist. Aber der Schmerz! Irgendetwas stimmt nicht. Wo ist Sascha? Wo ist Sergej?
Als Sergej Iwanow nach Hause kam, standen die Nachbarn mit bedrückten Mienen im Regen im Hof. Als er in ihre Gesichter sah, stürmte er voller böser Vorahnungen ins Haus. Jana erzählte ihm, was geschehen war: Sascha war tot, vom Dach gefallen. Bei Natalja hatten die Wehen eingesetzt, die Blutung konnte nicht gestillt werden, man konnte nichts tun. Beide waren verloren.
Aber das Baby lebte. Es war ein Sohn. Aber klein und zerbrechlich, wie ein Frühgeborenes nun einmal ist, würde er wohl kaum überleben. Jana Waslakowa hatte in ihrem Leben viel gesehen und war mit dem Tod vertraut.
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