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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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dass er diese Länder einmal besuchen könnte.
    Seine Welt war bis zu jenem Oktobertag im Jahr 1880 auf die hohen Mauern, die Blockhäuser, die Schlafgebäude, Klassenzimmer und Exerzierplätze der Newski-Kadettenanstalt beschränkt gewesen. Sergej hatte sich diesen Ort nicht ausgesucht, aber er akzeptierte ihn so, wie Kinder es nun einmal tun müssen. Seine frühen Jahre waren durch den geregelten Tagesablauf aus Unterricht, Körperertüchtigung und Disziplin geprägt, durch das Studium von Militärgeschichte, Strategie und Geographie, durch Reiten, Laufen, Schwimmen und Gymnastik.
    Wenn die Kadetten nicht im Unterricht waren oder arbeiteten, dann übten sie sich in den militärischen Künsten. Im Sommer lernte Sergej im kalten Kruglojesee unter Wasser zu schwimmen und durch ein Schilfrohr zu atmen. Er übte den Kampf mit dem Säbel und schoss Pfeile mit einem Bogen ab, den er kaum zu spannen vermochte. Später würde er auch mit der Pistole und dem Karabiner schießen lernen.
    Es war weder ein gutes noch ein schlechtes Leben: Er kannte einfach kein anderes.
     
    Als Sergej sich dem Hauptgebäude näherte, steckte er seine dunkelblaue Bluse ordentlich in seine dunkelblauen Hosen und überprüfte, ob seine Stiefel blank genug waren. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es nicht angebracht gewesen wäre, die Ausgehuniform mit Handschuhen anzuziehen, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Die meisten älteren Jungen sahen fesch darin aus, aber er versackte immer noch fast in der viel zu großen Uniform. Wenn er zu groß für eine alte Uniform geworden war, gab man ihm stets eine gebrauchte neue, die wiederum viel zu groß für ihn war.
    Immer noch in Gedanken versunken, schlurfte Sergej über die Steinfliesen des langen Korridors zur Amtsstube seines Onkels. Er dachte daran, wie er vor vier Jahren zum letzten Mal dorthin befohlen worden war. Er konnte sich noch gut an das hagere, strenge Gesicht des Kommandanten erinnern, der ihm befohlen hatte, sich zu setzen. Sergej war auf einen Stuhl geklettert, seine Füße hatten in der Luft gebaumelt und er hatte kaum über den Rand des Pultes schauen können, als sein Onkel die Worte sagte, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. »Dein Vater ist gestorben. Sein Name war Sergej Borisowitsch Iwanow. Er gehörte der Leibgarde unseres Zaren Alexander an. Er war ein guter Mann und ein Kosak. Du musst dich nach Kräften anstrengen, um so zu werden wie er.«
    Sergej hatte nicht gewusst, was er fühlen oder wie er reagieren sollte, deshalb hatte er einfach nur genickt.
    »Hast du irgendwelche Fragen?«, hatte der Kommandant ihn gefragt.
    »Wie … Wie ist er gestorben?«
    Erst Stille, dann ein Seufzer. »Dein Vater hat sich zu Tode gesoffen. Was für eine Verschwendung!«
    Damit war Sergej entlassen worden. Er erinnerte sich noch, wie leichenblass das Gesicht seines Onkels an jenem Tag gewesen war.
    Er hatte die Amtsstube mit so vielen widerstreitenden Gefühlen verlassen, dass es schwer für ihn war, herauszufinden, was er eigentlich fühlte. Es machte ihn traurig, dass sein Vater gestorben war. Andererseits hieß das, dass sein Vater einmal gelebt, ihn aber nie besucht hatte. Er war stolz, dass auch in seinen Adern Kosakenblut floss und dass er eines Tages so stark wie der Vater sein würde, den er nie gekannt hatte.
    Sergej kam zurück in die Gegenwart, als er vor der Tür seines Onkels ankam. Er wollte gerade klopfen, als er von drinnen gedämpfte Stimmen hörte.
    »Dieser Besuch, um den Sie mich bitten«, hörte er die Stimme seines Onkels sagen, »ich werde ihn gestatten, obwohl andere nicht der Meinung sind, das ich es tun sollte. Viele Leute schätzen die Juden, die Mörder unseres Herrn, nicht besonders.«
    »Und ich schätze Soldaten, die Mörder der Juden, nicht besonders«, erwiderte eine ältere Stimme, die Sergej nicht kannte.
    »Nicht alle Soldaten hassen die Juden«, antwortete sein Onkel.
    »Und Sie?«, fragte die andere Stimme.
    »Ich hasse nur Schwäche.«
    »So wie ich Dummheit hasse.«
    »Ich bin nicht so dumm, dass ich mich von Ihrem jüdischen Intellekt austricksen lassen würde«, sagte der Kommandant.
    »Und ich bin nicht so schwach, dass ich mich von Ihrem Kosakengehabe einschüchtern lassen würde«, erwiderte der andere Mann und fügte dann etwas freundlicher hinzu: »Wissen Sie, mit Ihrem Mut und meinem Verstand hätten wir viel erreichen können.«
    In der eintretenden Stille fand Sergej den Mut, dreimal an die Tür zu

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