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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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Der Tod ist leicht , dachte sie, aber nicht für die, die zurückbleiben . Schon bald würde der Priester kommen und Natalja und Sascha die letzten Sakramente geben - und wahrscheinlich auch dem Neugeborenen. Sie legte Sergej seinen Sohn in die Arme und trug ihm auf, dem Baby etwas Ziegenmilch einzuflößen, was ihn möglicherweise durch die Nacht bringen würde.
    Sergej sah in das zerknitterte kleine Gesicht und auf den winzigen Körper, der in die Decke eingewickelt war, die Natalja selbst gewebt hatte. Als ihn die Trauer übermannte, setzte er sich auf einen Stuhl und starrte mit blinden Augen zu Boden. Nur vage und wie von fern hörte er die Stimme von Jana Waslakowa: »Bevor sie starb, sagte Natalja, dass sie Sie von ganzem Herzen liebe. Dann bat sie noch darum, dass Sie ihren Sohn in die Obhut ihrer Eltern geben mögen.«
    Noch im Tod hatte Natalja nur das Wohl ihres Sohnes im Auge gehabt - und das ihres Mannes. Sie wusste, dass Sergej, ein Angehöriger der Leibgarde des Zaren, sich nicht um ihren kleinen Sohn würde kümmern können. Hatte sie auch geahnt, dass ihn sein Anblick auf ewig an diesen tragischen Tag und an den Verlust seiner geliebten Frau erinnern würde?
    Der Priester kam und taufte das Baby, damit es nicht - sollte es tatsächlich sterben - der ewigen Verdammnis anheim fallen würde. Als der Priester nach dem Namen fragte, erwiderte Sergej, der nicht richtig zugehört hatte, zerstreut: »Sergej«, weil er dachte, der Priester habe ihn nach seinem Namen gefragt. Und so erhielt der Sohn den Namen des Vaters.
    Jana, die Hebamme, bot sich an, die Nacht über auf den Kleinen aufzupassen. Sergej nickte langsam und sagte: »Sollte er bis zum Morgen überleben, bringen Sie ihn bitte zu seinen Großeltern.« Er gab ihr Namen und Adresse: Heschel und Esther Rabinowitz. Es behagte ihm überhaupt nicht, dies zu tun, denn Nataljas Eltern waren Juden, aber er spürte, dass sie das Kind lieben und liebevoll aufziehen würden. Also erfüllte er Natalja ihren letzten Wunsch. Sergej hatte ihr im Leben niemals etwas abschlagen können, wie konnte er es da im Tod tun?
    Und während der Sohn sich an sein kleines Leben klammerte, begann für Sergej Iwanow eine lange Reise in die Finsternis, die schließlich zu seinem Tod führen sollte.
     
    Acht Jahre später saß Heschel Rabinowitz in einer dunklen Oktobernacht allein in einem Abteil dritter Klasse in einem Zug nach Moskau. Nachdenklich sah er aus dem Fenster, wobei ihm - wie bei alten Männern üblich - von Zeit zu Zeit die Augen zufielen, sodass er die Wälder und kleinen Dörfer nicht sah, die im ersten Licht des Tages sichtbar wurden. Heschel döste und träumte. Ab und zu erwachte er und starrte vor sich hin, aber alles, was er sah, waren Erinnerungen, die durch seinen Kopf geisterten. Seine Tochter Natalja in ihrem roten Kleid und ihrem strahlenden Lächeln; Sascha, der Enkel, den er nie gesehen hatte; das wunderschöne faltige Gesicht seiner geliebten Esther. Sie alle waren von ihm gegangen.
    Einen Augenblick lang kniff er die Augen zu, als könne er dadurch die Vergangenheit vertreiben. Doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge, als vor seinem geistigen Auge eine neue Vision auftauchte: das Gesicht eines dreijährigen Jungen, der mit Augen, die viel zu groß für sein kleines Gesicht waren, vertrauensvoll zu seinem Großvater emporblickte.
    Durch die Stimme des Schaffners, der die Ankunft des Zuges ankündigte, wurde Heschel aus seinen Träumen gerissen. Gähnend stand er auf, streckte die schmerzenden Glieder und zog seinen alten Mantel enger um sich. Er strich über seinen schneeweißen Bart und rückte die Brille auf seiner riesigen Nase gerade. Er nahm kaum wahr, dass ihn die anderen Passagiere stießen und schubsten. Er drückte seine Tasche gegen die Brust, so als ob er ein Baby darin tragen würde, stieg auf den Bahnsteig hinunter und begann mühsam vorwärts zu gehen. Als er nach oben in den Himmel blickte, sah er, dass es bald anfangen würde zu schneien.
    Heschel rückte seine Mütze gerade und versuchte sich auf sein Ziel im Norden zu konzentrieren. Er würde eine Mitfahrgelegenheit im Karren oder Wagen eines mitleidigen Bauern finden müssen, denn sein Ziel lag eine halbe Tagesreise weit entfernt in den Hügeln nördlich von Moskau. Die Reise würde ihn über schlammige Wege hin zu einer Kadettenanstalt am Ufer des Kruglojesees führen.
    Er wusste, es würde keine leichte Reise werden. Sein Rücken, gebeugt durch zahllose Stunden an der

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