Socrates - Der friedvolle Krieger
Büchern der großen Philosophen. Am liebsten hatte sie einen Griechen namens Socrates, der vor vielen, vielen Jahren lebte. Er war einer der weisesten und besten Menschen, die je gelebt haben.«
Heschel blickte in die Ferne und in den Himmel hinauf. Dann fuhr er fort: »Wir nannten dich ›kleiner Socrates‹, weil wir uns so an deine Mutter, unsere Tochter, erinnern konnten.«
»Gefiel Socrates meiner Mutter wegen seiner Weisheit so sehr?«
»Ja, das auch, aber vor allem wegen seiner Tugendhaftigkeit und seiner Charakterstärke.«
»Was hat er denn gemacht?«
»Socrates lehrte die jungen Männer Athens die höheren Werte wie Tugendhaftigkeit und Friedfertigkeit. Er behauptete, der unwissendste aller Menschen zu sein, aber er stellte kluge Fragen, die Wahrheit oder Lüge ans Tageslicht brachten. Er war nicht nur ein Denker, er war auch ein Mann der Tat. In seiner Jugend war er ein Ringer und ein tapferer Soldat, bis er den Krieg endgültig hinter sich ließ. Ich denke, man könnte ihn wohl zu Recht als einen friedvollen Krieger bezeichnen.«
Zufrieden wandte Sergej seine Aufmerksamkeit wieder der verschneiten Landschaft zu. Die späte Nachmittagssonne ließ die weißen Hügel glitzern und schien auf die Bäume, Moose und Flechten. Durch die frische klare Luft und das Abenteuer belebt, rannte Sergej voraus, zwang sich dann aber, auf seinen Großvater zu warten. Während er wartete, dachte er über das Wort »Jude« nach. Er hatte es schon ein paar Mal in der Anstalt gehört.
»Großvater«, rief er, »bist du ein Jude?«
»Ja«, erwiderte Heschel keuchend und kam langsam näher. »Und du auch, denn deine Mutter war Jüdin und dein Vater … Na ja, dein Vater war kein Jude, aber trotzdem hast du jüdisches Blut.«
Sergej sah auf seine Hände, die von der Kälte gerötet waren. Kosakenblut und Judenblut. »Großvater …«
»Du kannst gern Opa zu mir sagen, wenn du möchtest«, unterbrach ihn Heschel und setzte sich auf einen schneebedeckten Stein, um sich einen Moment auszuruhen.
»Opa.« Sergej stockte einen Augenblick, denn das neue Wort war für ihn noch ungewohnt. »Kannst du mir etwas über meine Mutter und meinen Vater erzählen?«
Heschel fegte mit der Hand den Schnee von einem anderen Stein und bedeutete Sergej, sich ebenfalls zu setzen. Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, was er dem Jungen erzählen sollte, begann er mit der Geschichte seiner Geburt. Er erzählte ihm alles, was er von Jana Waslakowa, der Hebamme, über diesen schicksalsschweren Tag erfahren hatte.
Als er fertig war, standen die beiden auf und setzten schweigend ihren Weg fort. Es ist gut, dem Jungen Zeit zu lassen, alles, was er gehört hat, beim Gehen zu verdauen , dachte Heschel. Nach einer Weile fügte er der Geschichte noch etwas hinzu. »Du warst dieser kleine Junge, Socrates, ein kleiner Lichtstrahl an einem dunklen Tag. Du hattest eine Mutter und einen Vater, die dich lieb hatten.«
Sergej sah, dass sich sein Großvater ein paar Tränen aus den Augen wischte. »Bist du traurig, Opa?«
»Lass mich einen Moment, mein kleiner Socrates. Gleich geht es mir besser. Ich musste nur an deine Mutter denken, an meine Tochter Natalja.«
»Wie war sie denn, meine Mutter?«
Heschels Miene nahm wieder einen geistesabwesenden Ausdruck an, als er traurig antwortete: »Natürlich ist jede Tochter in den Augen des Vaters das wunderbarste Geschöpf auf der ganzen Welt, aber nicht alle Töchter waren so weise und so mitfühlend wie deine Mutter. Sie hätte jeden anständigen jüdischen Mann glücklich gemacht … Wenn er sich an ihren scharfen Intellekt gewöhnt hätte«, fügte er nach einer Pause lächelnd hinzu.
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht genau, wo sie deinen Vater kennen gelernt hat, vielleicht auf dem Markt, aber als er uns das erste Mal besuchte, erfuhren wir, dass er kein Jude war. Schlimmer noch, er war ein Kosak und gehörte der Leibgarde des Zaren an, der wahrlich kein Freund unseres Volkes ist.«
»Aber er hat meine Mutter geheiratet und du hast gesagt, er wäre gut zu ihr gewesen.«
»Ja, aber weißt du, deine Mutter konnte ihn nicht heiraten, ohne ihren jüdischen Glauben aufzugeben und zum Christentum überzutreten.« Heschel brach ab, damit Sergej die ganze Tragweite dieser furchtbaren Tragödie erfassen konnte.
»Hat sie dich denn nicht mehr besucht?«
»Nein, nein, so war es nicht.« Heschels Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes.
»Opa,
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