Socrates - Der friedvolle Krieger
Werkbank, war gekrümmt wie die Geigen, die er aus Ahorn-, Fichten- und Ebenholz herstellte. Außerdem baute er auch Präzisionsuhren. Er hatte schon als Junge beide Handwerke erlernt - eines von seinem Vater und das andere von seinem Großvater. Da er sich nicht entscheiden konnte, was er lieber tat, baute er immer erst eine Geige, dann eine Uhr, immer abwechselnd. Selbst heute und trotz der Schmerzen in den Gelenken arbeitete er noch unermüdlich und ging an die Herstellung jeder neuen Geige heran, als ob es seine erste wäre, und an jede Uhr, als ob es seine letzte wäre.
Schon bald nachdem er seine beiden Ausbildungen abgeschlossen hatte, hatte ihm der Vater die Leitung der Werkstatt übertragen und war nach Osten gereist, um mit Edelsteinen zu handeln. Später hatten es der Reichtum und die Großzügigkeit seines Vaters dem Juden Heschel ermöglicht, weiterhin in Sankt Petersburg zu leben, wo er und seine Frau Esther eine Wohnung hatten.
Heschel gab sich einen Moment lang diesen Erinnerungen hin, während er den Bahnhof verließ und sich langsam auf den Weg zur großen Ausfallstraße aus der Stadt machte.
Ein paar Stunden später saß er auf einem Bauernkarren, der auf der engen, schlecht unterhaltenen Straße nach Norden rumpelte, und lehnte sich dankbar gegen einen Kartoffelsack. Als der Karren schließlich quietschend zum Halten kam, stieg er ab, nickte dem Bauern dankend zu und machte sich zu Fuß auf, den Rest des Weges hinter sich zu bringen.
Während er in das Tal hineinwanderte, dachte er an die vielen Bittbriefe, die er in den letzten fünf Jahren geschrieben hatte, und an die ebenso zahlreichen Ablehnungsbescheide. Vor ein paar Wochen hatte er dann einen letzten Versuch gemacht: Er hatte Wladimir Iwanow, dem Leiter der Kadettenanstalt, einen Brief geschrieben, in dem es hieß: Ich habe Sergej nicht gesehen, seit er in die Anstalt gebracht wurde. Inzwischen ist meine Frau gestorben. Keiner meiner Verwandten ist mehr am Leben. Dies ist meine letzte Gelegenheit, meinen Enkel zu sehen.
Und vor zwei Tagen war die Antwort gekommen und mit ihr die Genehmigung, Sergej zu besuchen. Heschel hatte sich sofort auf den Weg gemacht.
Im beißenden Wind zitternd, der ihm in den Nacken blies, schlug er den Kragen seines Wollmantels höher. Ich habe zwei Tage , dachte er, nur zwei kurze Tage, um den Geist eines achtjährigen Jungen mit den Erfahrungen meines Lebens zu füllen .
Dann fiel ihm ein, was Rabbi Hillel einmal gesagt hatte: »Kinder sind keine Gefäße, die gefüllt, sondern Kerzen, die angezündet werden müssen.«
»Ich habe nicht mehr viel Feuer«, murmelte Heschel, als er einen schneebedeckten Abhang vorbei an Birken und Kiefern hinunterstolperte. Seine schmerzenden Gelenke erinnerten ihn an seine Sterblichkeit und an diese letzte Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte. Das Heulen des Windes trat in den Hintergrund, während er sich an einen Tag vor fünf Jahren erinnerte, an dem ein Soldat mit einem Brief von Sergejs Vater zu ihm gekommen war, in dem stand, dass der Sohn zur Newski-Kadettenanstalt gebracht werden sollte.
Ein Stunde später näherte sich Heschel dem Haupttor eben dieser Kadettenanstalt. Staunend betrachtete er den Gebäudekomplex, der wie eine Burg von einer vier Meter hohen Mauer umgeben war. Direkt vor sich konnte er eine Reihe spartanisch anmutender Blockhäuser sehen. Weder Pflanzen noch Verzierungen milderten die Strenge der Mauern, hinter denen - so nahm er an - das Leben der jungen Soldaten von Strenge und Disziplin bestimmt war.
Ein Kadett führte Heschel über einen großen Innenhof ins Hauptgebäude hinein und durch einen langen Korridor bis vor eine Tür, auf der stand: W. I. Iwanow, Kommandant.
Heschel nahm die Mütze ab, strich sein dünnes Haar glatt und trat ein.
TEIL 1
Bitter und süß: Die zwei Seiten des Lebens
Ich erzähle eine traurige Geschichte und eine frohe.
Am Schluss wirst du erkennen, dass es sich um ein- und
dieselbe Geschichte handelt, denn bitter und süß
haben jeweils ihre eigene Zeit. Sie wechseln sich ab wie
der Tag und die Nacht - selbst jetzt in den Stunden
der Dämmerung meines Lebens.
AUS SOCRATES TAGEBUCH
1
A ls Sergej an jenem Oktobertag zu seinem Onkel befohlen wurde, schwante ihm nichts Gutes.
Es war ihm verboten, Wladimir Iwanow als seinen Onkel zu betrachten, für ihn war er Kommandant Iwanow. Es war ihm auch verboten, dem Kommandanten persönliche Fragen zu stellen, obwohl er viele hatte - zum Beispiel Fragen in
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