Söhne der Erde 01 - Unter dem Mondstein
und dabei wurde sie im gleichen Maße größer, in dem Höhe und Breite des Tunnels zunahmen.
»Phantastisch«, murmelte Conal Nord.
»Das ist es wohl.« Jessardin lächelte. Auch er beobachtete gespannt, wie die Tür in der glasklaren Wand auseinanderglitt und sich hinter der schwarzen Gestalt lautlos wieder schloß. Im hellen Licht erkannte der Venusier, daß die verzerrte Fratze des Wesens aus dem gleichen schimmernden Plastikmaterial bestand wie die Rüstung. Die Gestalt zerrte sich als erstes die Handschuhe herunter, und es wirkte fast gespenstisch, wie die weißen Hände zum Kopf hochtasteten, irgendwelche Kontakte berührten und mit einem Ruck den schwarzen Helm abnahmen.
Das glatte, ein wenig erhitzte Gesicht eines Wachmanns kam zum Vorschein.
Er verneigte sich tief: es war eine Ehre, daß sich der Präsident und der Staatsgast von der Venus für seine Arbeit interessierten. Simon Jessardin lächelte.
»Wie fühlt man sich als blitzeschleudernder Gott, Nummer dreißig?« fragte er.
»Ich... ich weiß nicht, mein Präsident. Ich tue meine Pflicht.«
»Wie heißen Sie, Nummer dreißig?« erkundigte sich der Venusier.
Der Mann schluckte verwirrt. Es war nicht üblich, nach seinem Namen gefragt zu werden. »Baral Kane, Herr«, stammelte er.
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Kane. Sind Sie eigentlich noch nie in die Versuchung geraten, einen Spaziergang unter dem Mondstein zu unternehmen?«
Der Mann wurde rot, dann wieder blaß, und schüttelte heftig den Kopf. Er war völlig verwirrt, und Conal Nord gestand sich ein, daß das nur logisch war.
Der Wachmann Nummer dreißig tat seine Pflicht.
Man hatte ihn nicht gelehrt, unvernünftige Fragen zu beantworten. Der Venusier wußte selbst nicht, wieso er diese verrückte Frage überhaupt gestellt hatte.
Vielleicht, weil er sich selbst plötzlich wünschte, einmal die Welt unter dem Mondstein betreten zu können.
Und er wußte auch, warum. Weil er spürte, daß er dann vielleicht etwas erfahren würde, das er zwanzig Jahre lang nicht verstanden hatte, die zwanzig Jahre seit dem Scheitern des Projekts Merkur.
*
Die Kuppel schimmerte im hellen, klaren Blau des Morgens. Die ganze Nacht hatte die große Trommel gedröhnt. Die Tiefland-Stämme wußten, was das bedeutete: das Priesterheer rüstete. In der Königshalle von Mornag tagte der Rat. Charru hatte bereits entschieden. Doch außer Gerinth fand er niemanden, der ihm zustimmte, und selbst der Alte schien uneins mit sich selbst. Was die Stämme wollten, war leicht zu sehen: sie standen mit Schild und Schwert auf dem Platz vor der Halle, bereit zu kämpfen. Aber Charru wollte den Krieg nicht. Er hatte den Schwur seines Vaters nicht erfüllt, um sein Volk einem schrecklichen Schicksal auszuliefern.
Als er aus der Halle trat, war die Stille so dicht, daß man eine Nadel fallen gehört hätte.
Die Trommel im Tempeltal schwieg. Gleich würden sich die Tore in der großen Mauer öffnen. Charru hatte den blauen Königsmantel um die Schultern gelegt und trug den Schild mit der goldenen Flamme.
»Niemand hebt das Schwert, ehe ich es befehle«, sagte er in das gespenstische Schweigen hinein. »Auch die Priesterkrieger sterben nicht gern, und selbst ein Sieg würde sie viele Tote kosten. Wenn sie die Herrschaft über das Tiefland wollen, werden wir kämpfend untergehen. Wenn sie nur einen Schuldigen suchen, wird es zwischen mir und Bar Nergal entschieden, und niemand mischt sich ein.«
»Wenn du dich nur nicht irrst«, sagte Camelo von Landre durch die Zähne. Charru fuhr herum. Ihre Blicke kreuzten sich. »Du hältst dich an meinen Befehl, Camelo! Niemand wird sich einmischen.«
Der andere antwortete nicht. Charru war nicht sicher, ob er gehorchen würde, diesmal nicht. Aber auch Camelo wußte, wie die Zukunft der Stämme aussah, wenn es zum Krieg kam. Er würde auf jeden Fall nicht leichtfertig handeln.
Das Knarren der schweren Tore klang seltsam dünn in der morgendlichen Stille.
Charru wandte sich ab und schritt schweigend voran durch den Schatten des Waldgürtels. Das schimmernde blaue Licht der Kuppel lag über der Ebene. Die Mauer war fern, die beiden Tore gähnten wie geöffnete Rachen. Rachen, die Menschen ausspien, Reihen um Reihen gerüsteter Krieger, das Heer der Priester. Ihr Gleichschritt dröhnte, als wolle er die Felsen erzittern lassen. In breiter Front fächerten sie auseinander, wälzten sich wie eine silberne Woge näher, und das Licht ließ glitzernde Reflexe von ihren Lanzen und
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