Söhne der Erde 01 - Unter dem Mondstein
Schwertern sprühen.
Bar Nergals schwarze Sänfte war nicht zu sehen.
Im Zentrum des anrückenden Heers ritt eine Gruppe von Priestern und Akolythen, doch der Oberpriester hatte es vorgezogen, im Tempel zu bleiben. Heißer, würgender Zorn flammte in Charru auf. Er hatte sich mit jeder Faser darauf vorbereitet, Bar Nergal in sein Totengesicht zu sehen, ihn mit der Kraft der Wahrheit zu schlagen, ihn zu zwingen, das Lebensrecht der Tiefland-Stämme anzuerkennen. Es mußte möglich sein, zu einer Verständigung zu kommen. Aber nicht mit den untergeordneten Priestern, diesen hirnlosen Marionetten, die ihr Leben in Furcht und Gehorsam verbrachten wie alle anderen Bewohner des Tempeltals.
Sie verharrten in Rufweite und zügelten ihre Pferde. Neben und hinter ihnen kam das ganze Heer zum Stehen - das funkelnde, gleißende Bild einer beklemmenden Übermacht.
Einer der Priester lenkte sein Pferd noch ein paar Schritte weiter.
Unter der Kapuze der dunkelblauen Kutte war sein Gesicht nur undeutlich zu sehen. Er hielt eine Schriftrolle in der Hand, von der er ablas. Seine Stimme schwankte leicht und paßte nicht zu den tönenden Worten.
»Frevel ist geschehen!« rief er. »Die Tiefland-Stämme haben das Tabu gebrochen und die Götter beleidigt. Ihr furchtbarer Zorn wird über die Welt kommen und uns alle vernichten.«
Charru warf den Kopf in den Nacken.
»Nein!« rief er zurück. »Nicht, wenn die Götter gerecht sind.«
Die Schriftrolle in der Hand des Priesters zitterte leicht. Bar Nergal hätte vielleicht geantwortet, aber nicht diese Marionette. Es war sinnlos, erkannte Charru Die Priester hatten bereits entschieden. Sie würden ihn vor das Gericht des Tempels stellen, und vielleicht war das gut so - denn dann endlich würde er Bar Nergal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
»Frevel ist geschehen! Schrecklicher Frevel!« Die Stimme wurde lauter, schriller, lächerlich hoch. »Niemand darf ungestraft das Gesetz brechen. Die Götter verlangen ein Opfer zur Besänftigung ihres Zorns. Blut muß den Frevel abwaschen, Blut allein kann es...«
Charru lauschte schweigend dem hysterischen Singsang.
Ein Opfer... So war das also. Seine Lippen krümmten sich zu einem bitteren Lächeln, und der Priester schwieg verwirrt.
»Wer?« fragte Charru in die tödliche Stille.
Und die Antwort kam sofort und schien sich in sein Hirn zu bohren wie ein glühendes Messer.
»Arliss! Arliss von Mornag, Prinzessin des Tieflands.« Seine Schwester!
Das konnte, das durfte nicht sein. Er hatte erwartet, seinen eigenen Namen zu hören, und er wäre diesen Weg gegangen. Sich selbst konnte er opfern. Nicht Arliss! Die Priester wußten es, und mit schmerzhafter Plötzlichkeit erkannte Charru die teuflische Logik, die in Bar Nergals Plan lag.
Er wollte die Macht, doch er wollte sich nicht vor den Augen der Welt ins Unrecht setzen.
Und Charru wußte jetzt auch, daß Bar Nergal log, wenn er behauptete, die schwarzen Götter hätten Arliss von Mornag als Opfer verlangt. Wenn sie wirkliche Götter waren, hätten sie den verlangt, der das Tabu gebrochen hatte. Aber Bar Nergal wollte niemanden, von dem er annehmen mußte, daß er sich vielleicht freiwillig stellte: Er wollte Krieg, und er hatte das Opfer gewählt, von dem er sicher war, daß die Stämme es nicht ausliefern würden.
Charrus Augen glitten über die endlose Reihe der Priesterkrieger. Hinter sich hörte er das Scharren von Füßen, fühlte förmlich, wie sich die Männer dichter zusammenschlossen. Er brauchte sich nicht umzusehen. Und es bedürfte auch keiner Worte mehr. Es würde ein aussichtsloser Kampf sein - doch er war so unaufhaltsam wie das Schicksal selber.
»Arliss von Mornag!« wiederholte die schrille Stimme des Priesters. »Bringt sie zu mir und...«
»Nein«, sagte Charru fest.
Seine Hand senkte sich auf den Schwertgriff. Gerinth trat mit ruhigen Schritten neben ihn, Camelo glitt an seine andere Seite. Schilde klirrten gegeneinander, und als Charru den Kopf wandte, entdeckte er Karstein mit grimmigem Gesicht an der Spitze seiner blonden, bärtigen Nordmänner und Jarlon zwischen ihnen.
Sie würden ihn schützen, ohne daß er es merkte. Und Gerinth und Camelo waren entschlossen, ihn, Charru, auf die gleiche Art zu schützen, erkannte er. Nur, daß sie es damit nicht so leicht haben würden. Er lächelte, und wieder ließ dieses unbegreifliche Lächeln den Priester zusammenzucken.
Er riß den Arm hoch.
Die Papierrolle entglitt seiner Hand und flatterte zu
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