Söhne der Erde 01 - Unter dem Mondstein
Charrus Bewußtsein kämpfte sich mühsam zurück an die Oberfläche. Er sah Camelos Gesicht über sich, als er die Augen öffnete, dann wurde dieses Gesicht vom aufblitzenden Bild einer Erinnerung verdrängt: Arliss, die die Priesterkrieger aus der zerstörten Königshalle zerrten...
Mit einem Ruck richtete er sich auf.
»Arliss?« fragte er flüsternd.
Camelos Schweigen war Antwort genug. Seine blauen Augen hatten sich verdunkelt, aus dem hellen, schönen Gesicht schien das Lächeln für immer weggewischt. Charru hob den Kopf und begegnete den Blicken Gerinths, Karsteins und der Nordmänner.
»Jarlon?« flüsterte er.
»Ich bin hier.« Die Stimme klang fremd und erstickt.
»Jesco? Gillon von Tareth? Kormak?«
»Jesco fiel«, sagte Gerinth. »Kormak ist verwundet. Brak und die Hälfte der Nordmänner starben in der Halle.«
»Die Kinder...«, sagte Charru tonlos.
Er bekam keine Antwort. Frauen und Kinder waren in der Halle versammelt gewesen, von der nur noch die steinernen Außenwände standen. Die Trümmer rauchten. Wenige hatten fliehen können und überlebt. Mütter mit kleinen Kindern, denen das Grauen die Lippen versiegelte. Junge Frauen und Mädchen, die mit den Schwertern der gefallenen Männer weitergekämpft hatten. Charrus Blick glitt über die Ebene. Yasson und Garim... Derek, Mark, Michael...Dutzende von Toten lagen in ihrem Blut. Verwundete stöhnten, und stumm und bleich bewegten sich Männer und Frauen über das Schlachtfeld, um zu helfen, wo es noch möglich war.
Charru fühlte die Müdigkeit wie ein unerträgliches Gewicht, das auf seinen Schultern lastete.
Er wandte den Kopf und starrte mit erloschenen Augen zu der großen Mauer hinüber, hinter der die prächtigen Kuppeln der Tempelstadt im blauen Licht glänzten. Die Trommel dröhnte wieder. Sie würde den ganzen Tag dröhnen, bis in die Nacht. Die Priester würden das Opfer vorbereiten, die Menschen im Rhythmus auf den Straßen und Plätzen stampfen und ihre Gebete heulen, bis sie in Trance und Wahnsinn fielen. Sie kannten nur Furcht, und sie würden begierig dem grauenhaften Schauspiel zuschauen. Charru schloß die Augen. Er sah Arliss' Leib auf dem schwarzen Block im Schatten der Götterstatuen. Er sah Bar Negals Totengesicht über der düsteren roten Robe, und wie eine lautlos steigende Flut wuchs der Haß in ihm, bis er sich zu einem Entschluß formte.
Er würde Arliss retten oder sterben.
Oder den Oberpriester töten! Denn wenn ihm das gelang, würde im Tempeltal ein unvorstellbares Chaos ausbrechen, würden sie Zeit gewinnen...
Als er sich wieder umwandte, lag ein kalter Glanz in seinen blauen Augen. Schweigend sah er seine Freunde an, und es gab nicht einen unter ihnen, der ihn nicht ohne Worte verstanden hätte.
»Ich komme mit«, sagte Jarlon überraschend ruhig. »Sie ist meine Schwester.«
»Wir alle!« knurrte Karstein tief in der Kehle. »Wir werden...«
Charru schüttelte den Kopf. »Das wäre sinnlos, Karstein. Wir sind besiegt, wir können nichts im offenen Kampf erzwingen. Camelo, Jarlon und ich werden gehen.«
»Du willst wirklich Jarlon mitnehmen?« fragte Gerinth leise.
»Ich muß. Arliss ist seine Schwester, und niemand hat das Recht, ihn zurückzuhalten. Jetzt nicht mehr.«
Gerinth nickte. Ruhig hob er den Kopf und blickte in die blaue, leuchtende Kuppel hinauf.
»Wartet die Dunkelheit ab«, sagte er. »Wir werden die Scheiterhaufen entzünden und die Toten den Flammen übergeben. Vielleicht wird es euch die Wut der Priester dann ein wenig leichter machen...«
*
Tief in den Gewölben unter dem Tempel erwachte Arliss von Mornag aus der Bewußtlosigkeit.
Der Schmerz von den Stricken, die in ihre Arme schnitten, war die erste Wahrnehmung. Der Steinboden unter ihrem Körper fühlte sich feucht und glitschig an, und sie hörte das Rieseln des Wassers, das in dünnen Rinnsalen über die Wände lief. Ein fernes, dumpfes Dröhnen ließ die Luft vibrieren: die große Trommel, die den Sieg verkündete und den Takt zu den endlosen Gebeten gab, mit denen die Menschen die zürnenden Götter zu besänftigen suchten.
Aber die schwarzen Götter ließen sich nicht durch Gebete versöhnen.
Die Götter des Tempeltals waren grausam und blutrünstig, sie verlangten nach Menschenopfern. Arliss richtete sich auf und blickte in den roten Fackelschein, der den Gang vor ihrem Gefängnis erhellte. Das Gitter glänzte matt: armdicke Eisenstäbe, deren Schlösser und Riegel unerreichbar in die Mauern eingelassen waren. Arliss
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