Söhne der Erde 01 - Unter dem Mondstein
die er zurückkehren mußte, wenn er sein Volk befreien wollte? Einen kurzen Augenblick klammerte er sich an den Gedanken, daß die Kuppel vielleicht in Wahrheit eine riesige Höhle unter der Erde sei. Aber er erinnerte sich zu genau an den Weg. Er war nur eine einzige kurze Wendeltreppe hinaufgeklettert, und auch der entsetzliche Tunnel, der sich zusammenzog, hatte nicht aufwärts geführt. Seine Welt konnte nicht unter der Erde liegen.
Aber wo war sie? Wo?
Jähe Furcht krampfte ihm das Herz zusammen. Der Gedanke, daß seine Vorstellungen von Raum, von Höhe und Tiefe hier vielleicht gar nicht galten, machte ihn schwindlig. Gab es eine andere Erklärung als die, daß seine gewohnte Welt unter der Erde lag? Er mußte es herausfinden, und dazu mußte er in das Gebäude zurückkehren, aus dem er gekommen war.
Instinktive Furcht hielt ihn davon ab, sich noch einmal in die Nähe des unheimlichen Tunnels zu wagen.
Im fahlen Licht der beiden Marsmonde suchte er die nächstbeste Tür, die sich wie alle anderen von selbst öffnete, als er darauf zuging. Das einfallende Licht reichte gerade, um ihm zu zeigen, daß ein Flur vor ihm lag. Als sich die Tür wieder schloß, war die Dunkelheit für den Bruchteil einer Sekunde undurchdringlich wie schwarzer Schlamm - und dann begannen die Wände zu leuchten.
Charrus Muskeln verkrampften sich.
Einen Augenblick lähmte ihn der Schrecken, dann verebbte der Fluchtimpuls. Es war ein sanftes, kühles Licht, das den Gang erhellte, kein Feuer, auch wenn es ihn im ersten Moment an die Flammenwände erinnert hatte. Er biß die Zähne zusammen, starrte auf den Boden unter seinen Füßen, der makellos weiß war und glänzte.
Langsam ging er weiter, auf das Ende des Flurs zu, und wieder öffnete sich vor ihm lautlos eine Tür.
Eine weite Halle.
Er konnte den Boden nicht sehen, denn die Tür führte auf einen breiten weißen Sims mit einer ebenfalls weißen Brüstung, der offenbar um den ganzen Raum herumlief. Die Decke war gewölbt und leuchtete. Zögernd machte Charru einen Schritt nach vorn - und zuckte im nächsten Moment heftig zusammen.
Stimmen!
Menschliche Stimmen!
Und er begriff sofort, daß sie sich in einer Sprache unterhielten, die er verstehen konnte.
»...leider unmöglich«, sagte jemand. »Die einzige schwache Stelle des Systems, wie ich gestehen muß. In dem kleinem Bereich zwischen der Quelle und der Mauer verhindert die Höhe der Kuppel ein einwandfreies Funktionieren der akustischen Überwachung.«
»Es dürfte nicht schwer sein zu erraten, worüber sie sich unterhalten«, meinte eine zweite Stimme. »Sie starren die Mauer an und verfluchen die Priester.«
Charru hielt den Atem an.
Priester, klang es in ihm nach.
Die Mauer! Und die Quelle - die einzige Quelle, die das Tiefland mit Wasser versorgte...
Charrus Gedanken wirbelten durcheinander. Aber er begriff immerhin, daß die unbekannten Menschen dort unten von seiner Welt sprachen, der Welt unter der blauen Kuppel, und wie in Trance trat er an die Brüstung heran.
*
Ein weiter Saal, dessen Mitte von einer glänzenden Halbkugel eingenommen wurde.
Sie war durchsichtig. Charru sah, daß etwas darunter lag, doch er konnte es nicht erkennen, da die Entfernung zu groß war und die beiden Menschen ihm die Sicht nahmen. Sie wandten ihm den Rücken und blickten in die Halbkugel. Beide waren etwa so groß wie er, doch mit ihrem schmalen Körperbau ähnelten sie mehr den Menschen des Tempeltals. Verwundert betrachtete Charru den glatten silbernen Anzug des größeren: ein unbekannter Stoff, zu geschmeidig, um Metall zu sein, aber auch ganz anders als das grobe Leinen, das die Frauen der Tiefland-Stämme auf ihren einfachen Webstühlen herstellten. Der zweite Mann trug ein merkwürdiges graues Gewand, das entfernt an die Roben der Priester erinnerte. Beide wirkten unendlich fremd, doch auf jeden Fall glichen sie nicht im mindesten den schreck- schwarzen Göttern.
Charru atmete auf.
Sie waren Menschen. Sie sahen nicht viel anders aus als er, sie hatten die gleiche Sprache - also mußte es wohl möglich sein, sich mit ihnen zu verständigen. Sollte er es versuchen? Sie anrufen? Er runzelte die Stirn und erinnerte sich wieder ihrer Worte über die Priester. Die Menschen dort konnten in seine Welt hineinsehen vielleicht durch die seltsame Halbkugel. Das Wort »akustisch« kannte er nicht, aber er wußte, was sie mit Überwachung meinten. Sie beobachteten das Tempeltal und das Tiefland. Warum? Und wenn sie keine bösen
Weitere Kostenlose Bücher