Söhne der Erde 01 - Unter dem Mondstein
diesen ständigen Kreislauf zu akzeptieren.
Wer sorgte dafür?
Wer tat das alles?
Der Raum, in dem er stand, war von Menschen errichtet worden, daran gab es keinen Zweifel. Oder von den schwarzen Göttern? Charru kniff die Augen zusammen und versuchte zu ergründen, warum er das nicht glaubte. Dann wußte er es. Die schwarzen Götter waren wild und ungerecht und grausam wie ihre Priester, sie gehörten dem Tempeltal an - und er hatte sie sich nie anders als unwissend vorstellen können.
Aber wer dies hier erbaut hatte, mußte mehr wissen als die Priester, die Tempeltal Leute und die Stämme des Tieflands.
Der Gedanke, daß seine Welt vielleicht an eine andere Welt grenzte, deren Menschen genausowenig von seiner Existenz geahnt hatten wie er von der ihren, ließ Charru erschauern.
Wer waren sie?
Und wie waren sie? Sicher anders als alle Menschen, die er kannte. Vielleicht verstanden sie seine Sprache nicht. Und wenn er ihnen begegnete, halb nackt, blutbesudelt und von Wunden und Peitschenstriemen gezeichnet würden sie ihn nicht fürchten?
Nein, dachte er.
Er war unbewaffnet. Sie brauchten keine Angst vor ihm zu haben - und er wußte aus langer Erfahrung, daß es fast immer Angst war, die Verständigung und Frieden unter den Menschen unmöglich machte.
Immer noch stand er reglos, neue Gedanken schienen auf ihn einzustürzen gleich Felsblöcken.
Er war in einer fremden, unbekannten Welt.
Hier mußten Menschen leben, und da sie ihn nicht zu fürchten brauchten, würden sie ihn nicht angreifen. Ihn nicht -und alle, die nach ihm kamen. War es möglich, zurückzukehren? Konnte er auf den geheimnisvollen Wegen, des Wassers Mornag und seine Freunde erreichen? Und würde er vielleicht den Weg ein zweites Mal gehen können, gemeinsam mit den anderen? Konnte er sein Volk in die Freiheit führen?
Charru zitterte plötzlich. unter der Ungeheuerlichkeit seiner Gedanken.
Zwanzig Regenzeiten hatte er in den Steppen gelebt, und zehn Regenzeiten lang hatte er geahnt, daß ein Weg durch die Flammenwände führen mußte. Regenzeiten, wiederholte er in Gedanken. Was war der Regen? Kam er vielleicht auch aus dieser anderen Welt, die den schwarzen Fluß speiste? Und wenn - bedeutete das nicht, daß die Menschen dieser Welt die Geheimnisse des Regens, des Flusses - und vielleicht der schwarzen Götter kannten?
Charru kämpfte gegen den Schwindel, der ihn zu überwältigen drohte.
Er befahl sich, nicht länger zu grübeln. Er mußte weitergehen. Sein Blick glitt suchend in die Runde - und erfaßte eine schimmernde Metallkonstruktion, die ihn an die Wendeltreppen erinnerte, die es in den Gewölben des Tempels geben sollte.
Sie führte aufwärts, in einen Schacht ähnlich dem, aus dem das Wasser des schwarzen Flusses in den unterirdischen See stürzte.
Vorsichtig setzte Charru den Fuß auf die unterste Stufe. Licht schimmerte über seinem Kopf, und als er höher kletterte, erkannte er wieder eins der merkwürdigen leuchtenden Gitter. Die Wendeltreppe endete in einem kleinen, quadratischen Raum, und eine seiner Wände bestand aus Felsen.
Felsen, in die ein Gang hineinführte.
Charru biß sich auf die Lippen. Er befand sich immer noch irgendwo unterhalb des Grats - und das hieß, daß am Ende dieses Gangs das Tor der Götter liegen mußte.
Götter?
Vielleicht andere Menschen, die hier lebten - eine faszinierende Vorstellung. Charru drehte sich um und starrte auf die durchsichtige Wand, die den Felsen gegenüberlag. Der Tunnel dahinter war gewölbt und blau wie die Himmelskuppel und erweiterte sich zu einer beängstigenden Höhe und Breite. Würde sich auch in der durchsichtigen Wand eine Tür öffnen, wenn man darauf zuging? Charru versuchte es, und tatsächlich glitten die beiden Hälften der Wand auseinander, als besäßen sie irgendeine Art von Wahrnehmungsvermögen.
Zögernd betrat er den Tunnel.
Hinter ihm schloß sich die Tür, er machte einen Schritt nach vorn - und zuckte heftig zusammen. Das Gefühl, das ihn überfiel, war völlig fremd und erschreckend. Als dehne sich etwas in ihm aus. Etwas, das seinen Körper auseinander zusprengen drohte. Er blieb stehen, sah sich um und versteinerte förmlich vor Schrecken.
Der Tunnel bewegte sich.
Die blaue Röhre wurde enger, zog sich zusammen. Charru hielt den Atem an. Immer noch hatte er das grauenhafte Gefühl, sich auszudehnen. Als er den Kopf hob, sah er die schimmernde Wölbung der Decke dicht über sich, etwas in ihm schien zu brechen, und Panik überschwemmte wie
Weitere Kostenlose Bücher