Söhne der Erde 04 - Tage Des Verrats
verlieren wollte und das ihm den Mut gab, weiterzugehen.
Minuten später erreichte er die Stelle, wo sich der Gang zu einer Grotte erweiterte.
Ein paar rote Felsennadeln wuchsen im Feuerschein empor. Ayno duckte sich in ihren Schatten. Bar Nergal stand mit ausgebreiteten Armen hinter einem Steinblock, dessen Form entfernt an den Altar der schwarzen Götter erinnerte. Die Priester kauerten am Boden, murmelten Gebete, wiegen ihre Oberköper, um sich in den Zustand zu versetzen, den sie für Erleuchtung hielten und der doch in Wahrheit eine Art von Wahnsinn war. Nur Mircea Shar lehnte mit verschränkten Armen an der Felswand, reglos wie eine Statue. Sein Blick haftete an dem fahlen Totengesicht des Oberpriesters. Ayno fühlte plötzlich, daß die Ereignisse auch in den ehernen, unumstößlichen Überzeugungen des Tempelhüters einen tiefen Riß hinterlassen hatten.
»Betet! Betet!« krächzte Bar Nergal. »Dies ist ein heiliger Ort! Vielleicht werden sich uns die Götter wieder offenbaren. Sie sind anders, als wir glaubten, mächtiger, als wir ahnten. Blind waren wir, doch jetzt können wir sehen. Die Götter schenkten uns eine Welt, in der wir leben durften. Durch wessen Schuld wurde diese Welt zerstört? Wer hat sie vernichtet? Wer hat euch beraubt?«
Niemand, dachte Ayno voller Zorn. Ihr hattet keine Welt, sondern einen Kerker! Ihr seid nicht beraubt. Ihr seid frei, und ihr wißt es nicht...
»Die Strafe der Götter hat uns getroffen!« fuhr Bar Nergal fort. »Aber nicht wir waren die Frevler. Nicht wir sind es, die den Mächtigen trotzen! Wir müssen sie versöhnen! Wir müssen fliehen von diesem verfluchten Ort. Wir müssen ein Opfer bringen... «
»Ein Opfer!« stöhnten die murmelnden Stimmen. »Ein Opfer! Ein Opfer... «
»Wer verriet uns? Wer verführte selbst Nabu Gor, den Ersten Tempelhüter? Welcher Zauber verwirrte seinen Geist? Der Zauber dessen, der sich erdreistete, durch das Tor der Götter zu treten... «
Die dünne, krächzende Greisenstimme redete weiter und weiter, bebend vor Haß.
Gleich würde er die Antwort bekommen, die er hören wollte. Gleich würden alle diese Wahnsinnigen den Namen schreien, dem der ganze Haß des Oberpriesters galt: Charru von Mornag.
Wie unter einem Zwang richtete sich Ayno auf.
Seine Augen loderten. Alles in ihm drängte danach, sich blindlings in den Kreis zu stürzen, dieser Versammlung von Narren in die bleichen, entrückten Gesichter zu schreien, daß ihre Götter nichts anderes als Menschen waren, verbrecherische Menschen. Mit geballten Fäusten versuchte er sich zusammenzureißen, nicht den Kopf zu verlieren - und in der gleichen Sekunde spürte er einen Blick wie eine Berührung. Dayels Blick!
Der Akolyth zuckte zusammen und riß erschrocken die Augen auf. Sekundenlang starrten sie sich an, schien die Zeit stehenzubleiben. Früher einmal waren sie Freunde gewesen. Sie waren zusammen in die Tempelschule gegangen, hatten zusammen ihre Prüfungen abgelegt und die Weihen empfangen, hatten fast alles gemeinsam erlebt. Nein, Dayel, tu es nicht, dachte Ayno verzweifelt. Aber da war der andere schon aufgesprungen.
»Da!« schrie er gellend. »Ayno! Der Verräter...«
Köpfe fuhren herum.
Wie abgeschnitten verstummte das Gemurmel. Ayno spürte die Gefahr mit jeder Faser, doch der neue, wilde Trotz in ihm hinderte ihn daran, sich herumzuwerfen und zu fliehen.
Er machte einen Schritt nach vorn und zog mit einem wilden Ruck das Schwert aus der Scheide.
»Lüge!« keuchte er. »Alles Lüge! Es gibt keine Götter! Niemand hat euch verraten! Charru von Mornag hat euch alle aus einem schrecklichen Gefängnis befreit! Er hat für euch gekämpft; er hat sein Blut für euch vergossen; er... «
Sekundenlang schienen seine Worte mehr noch der der Anblick der blankgezogenen Waffe die Priester in Bann zu schlagen. Dann begriffen sie, daß er allein war.
»Packt ihn!« kreischte Bar Nergal.
Dayel war der erste, der sich auf ihn stürzte. Ayno schwang das Schwert, holte weit aus, aber er brachte es einfach nicht fertig, schnell und tödlich zuzuschlagen.
Sekunden später war die Chance vertan.
Sie hingen an seinen Armen, schlugen auf ihn ein, bis ihm die Waffe entglitt, rissen ihm brutal die Hände auf den Rücken. Dayel spuckte ihn an, das Gesicht verzerrt vor Haß. Ayno schwankte, stöhnte vor Schmerz, sah nur noch blutrote Schleier. Aus diesen Schleiern schälte sich die hohe, hagere Gestalt des Oberpriesters wie ein drohender Schemen, und zwischen den dürren
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