Söhne der Erde 04 - Tage Des Verrats
Greisenfingern blitzte die lange Klinge des Opfermessers.
Ayno straffte den Rücken und warf den Kopf in den Nacken.
Furchtlos starrte er seinem Widersacher in die Augen. Er war kein Sklave mehr. Wenn er sterben mußte, würde er aufrecht sterben wie ein Krieger.
»Tu, was du willst!« stieß er hervor. »Aber mein Blut wird deine Götter nicht wieder lebendig machen.«
*
Charru lächelte leicht, als er die winzige Bewegung zwischen den Felsen bemerkte.
Er wußte nicht genau, daß er nicht allein in der Schlucht war. Jarlon und Karstein hatten die Köpfe zusammengesteckt, mit ziemlich grimmigen Gesichtern. Jetzt verbargen sich vermutlich sämtliche Nordmänner in der Nähe, um aufzupassen. Sie würden sofort eingreifen, wenn ihnen irgend etwas verdächtig erschien. Davon hätte sie nicht einmal ein ausdrücklicher Befehl abbringen können.
Charrus Blick tastete über die Steilwand, bis er in der Dunkelheit den noch schwärzeren Schatten des Höhleneingangs entdeckte.
Vielleicht war es wirklich leichtsinnig, allein zu gehen. Wenn sich die Priester wieder in ihren Wahn hineingesteigert hatten, mochte es leicht sein, daß die ganze fanatisierte Horde über ihn herfiel. Aber wenn sie sich einem Dutzend Kriegern gegenübersahen, würden sie Angst haben, und dann konnte man ganz sicher nicht mit ihnen reden.
Konnte man das überhaupt?
Nicht mit Bar Nergal. Vielleicht mit Mircea Shar, der jünger war, klarer und vernünftiger dachte. Aber der Oberpriester hatte sich von dem Schock der letzten Tage erholt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er seine Anhänger wieder vollkommen beherrschte. Dann war die Chance zur Verständigung vertan - wenn es sie überhaupt je gegeben hatte.
Geschmeidig tauchte Charru in die Finsternis des Gangs und tastete sich an der Wand entlang.
Hinter einer leichten Biegung erhellte ein schwaches rötliches Glimmen die Dunkelheit, der Widerschein eines Feuers. Charru runzelte die Stirn, während er weiterging. Er hatte erwartet, Stimmen zu hören, die endlosen, gemurmelten Litaneien, die sich allmählich steigerten und manchmal zur grellen Eruption des Wahnsinns wurden. Aber es war still - zu still. Charru bewegte sich auf Zehenspitzen weiter, von einem jähen, kalten Unbehagen gepackt. Nach einem Dutzend Schritten erweiterte sich der Gang vor ihm zu einer Grotte.
Sein Herz übersprang einen Schlag.
Starr blieb er stehen, den Blick auf die Szene im gespenstisch flackernden Feuerschein gerichtet. Er hatte erwartet, die Priester bei einem ihrer sinnlosen Rituale zu überraschen, aber was er sah, ließ seinen Atem stocken.
Ayno!
Der abtrünnige Akolyth zwischen drei, vier Priestern mit haßverzerrten Zügen. Sie hatten ihn auf die Knie gezwungen, ihm brutal die Arme auf den Rücken gezerrt. Eine Faust krallte sich in sein Haar und riß ihm den Kopf in den Nacken, doch in dem totenbleichen Gesicht lag keine Spur von Furcht, nur kalte Verachtung. Verachtung, die dem Oberpriester galt, der hoch aufgerichtet vor ihm stand, die funkelnde Waffe in der Rechten.
Das Opfermesser!
Charru erkannte den goldenen Griff, die lange, schmale Obsidian-Klinge, die immer noch Spuren von getrocknetem Blut aufwies. Bar Nergal keuchte. Flecken hektischer Röte brannten in dem fahlen Gesicht. Langsam hob er den Arm, und die glühenden Augen verrieten, daß er sein Opfer in der nächsten Sekunde gnadenlos töten würde.
Charrus Faust ließ den Schwertgriff los, den er instinktiv umklammert hatte.
Er hätte die Waffe schon schleudern müssen, um schnell genug zu sein. Aber er wußte, wenn er jetzt den Oberpriester tötete, konnte keine Macht der Welt Ayno mehr retten. Charru blieb nur eine winzige Zeitspanne, um seine Entscheidung zu treffen. Mit einem langen Schritt erreichte er die Felszacken, die ihn vor den Blicken verborgen hatten.
»Halt!« schrie er.
Bar Nergal zuckte zusammen, zögerte - und dieses flüchtige Zögern genügte.
Charru sprang.
Wie eine Katze schnellte er auf den Oberpriester zu, prallte gegen den hageren Körper, schlug den Arm mit der Waffe nach oben. Bar Nergal taumelte zurück. Ein fauchender Wutschrei brach über seine Lippen. Immer noch umkrallten seine Finger das Messer, hielten es hoch über dem Kopf. Taumelnd warf er sich herum, und seine Hand zuckte mit einer Bewegung voll raubtierhafter Wildheit nach unten.
Charru warf sich zur Seite, doch er konnte nur halb ausweichen.
Die Klinge, die auf sein Herz gezielt war, fuhr brennend über seinen linken Arm, zerfetzte Haut
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