Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
Hinterläufen hervor, kam auf die Füße und rannte blindlings los. Weder gewahrte sie Mica noch sonst etwas von dem, was um sie herum vorging. Die Röcke bis zu den Oberschenkeln gerafft, schoss sie über das Feld wie ein Blitz. Die Angst verlieh ihr Flügel.
»Metzelt diese verdammte weiße Brut nieder. Keiner soll entkommen!«, rief Mica seinen Vampiren zu und setzte seiner Tochter nach.
Ihm war kein Sterblicher bekannt, der jemals so schnell gerannt war. Das Getöse in ihrem Rücken trieb sie voran und kitzelte aus ihr die Eigenschaften hervor, die sie dem alten Volk näher brachten. Als Mica sie eingeholt hatte, streckte er ihr die Hand entgegen, diesmal schlug Florine seine Hilfe nicht aus, sondern packte seine Finger und drückte hart zu.
»Anfahren, Saint-Germain!«
Der Befehl setzte die Pferde in Trab. Es brauchte lediglich einen kleinen Schub von Mica, und Florine sprang durch den offenen Schlag in das Innere. Er hechtete ihr nach und fiel neben ihr in die Polster. Die Pferde galoppierten an. Sie waren entkommen.
Trotz des ausgestandenen Schreckens lachte er leise auf. Florine ähnelte einer Windbraut, durch nichts aufzuhalten, flink und geistesgegenwärtig angesichts einer Todesgefahr – und das änderte alles. Die Endlichkeit des Erdendaseins sollte für sie in Zukunft an Bedeutung verlieren. In ihr hatte Mica genügend Eigenschaften entdeckt, die sie zu einem Teil des alten Volkes werden lassen konnten. Mit seiner Hilfe war ihr die Ewigkeit bestimmt. An seiner Seite.
Saint-Germain schwor auf heiße Hühnerbrühe, Florine jedoch setzte auf eine Mischung aus Wermut und Anis, um die Starre zu lösen und das Grauen in ihrem Inneren auszubrennen. Die Spirituose war dazu geeignet Katastrophen wegzuätzen. Mit dem ersten Glas spülte sie die Tatsache herunter, die Tochter des jugendlichen Blondschopf zu sein, der ihr gegenübersaß. Das zweite Glas, das Saint-Germain auf ihren Wink füllte, galt der Bestie, unter der sie gelegen hatte. In ihren Ohren hielt sich ein hartnäckiges Fiepen, das Gebrüll dicht an ihrem Kopf hatte sie nahezu taub zurückgelassen. Tot hatte sie sich gestellt, und tot fühlte sie sich weiterhin. Selbst ein Zittern, ein spürbares Nachbeben des Schocks blieb aus. Sie nippte an ihrem Glas und stierte vor sich hin. Die Benommenheit hielt an und erlaubte keine zusammenhängenden Gedanken.
»Du hattest unglaubliches Glück. Die Bestie erkennt nur sich selbst und ihresgleichen. Alles andere zählt für sie nicht in solchen Augenblicken. Cassian stand knapp davor, dich zu töten.«
Es gab einen Haken, sie kam nur nicht darauf, worin er bestand. Sie sah die kleinen Augen vor sich, die rot geäderten Augäpfel, in denen wahrlich kein Erkennen gestanden hatte, einzig blindwütige Raserei war darin zu sehen gewesen. In den Wolfsaugen hatte sie Cassian entdecken können, in dem Monster, zu dem er geworden war, war von ihm nichts mehr geblieben. Dennoch …
»Aber er hat mir nichts getan.«
»Weil er angegriffen wurde und du gerannt bist wie der Teufel selbst. Die Bestie kennt keine Bindung und lässt keine Nähe zu. Im Schein des Vollmondes reißen sie ihre nächsten Angehörigen. Cassian hatte eine Schwester. Alba griff einst ihren eigenen Vater an, und Juvenal musste sie mit eigener Hand töten.«
Ihre Glieder waren aus Eis, selbst der Alkohol in ihrem Magen konnte die Kälte nicht vertreiben. Es fiel ihr schwer, die Lippen zu bewegen und Worte zu formulieren.
»Warum erzählst du mir das, Mica?«
»Weil ich befürchte, du könntest noch immer nicht begreifen, worum es geht. Cassian folgte heute Nacht einem Trieb, den er nicht kontrollieren kann. In seiner Nähe wärest du jederzeit in Gefahr von ihm umgebracht zu werden. Die Bestie ist stärker in ihm als alles andere und solange sie besteht, darfst du das, was er für dich empfinden mag, nicht mit Liebe verwechseln. Die Bestie kennt keine Liebe – und sie wird erst mit seinem Tod verenden.«
Mit einem Zug leerte sie ihr Glas. Cassian war eine Bestie, und sie selbst nicht länger ein einfaches Findelkind, sondern Tochter eines Vampirs. Beides schien ihr im gleichen Maß monströs. Es war schlichtweg zuviel der Wahrheiten für eine Nacht.
»Wer hat den Kampf gewonnen?«
»Die Namenlosen sind ausgerottet. In den Katakomben gibt es keine weiteren Nester. Alle Vampire in Paris sind ausgeschwärmt und haben keine neue Brut gefunden. Diesmal ist uns nichts entgangen. Paris ist endgültig von ihnen gesäubert.«
Sie nickte, und
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