Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
darauf hinwies, spürte er es. Eine Veränderung in der Atmosphäre, die sie eigentlich gar nicht hätte bemerken dürfen. Cassian richtete sich auf. Von einem anziehenden Gewitter kam es nicht. Ein Namenloser war in der Nähe, höchstens einige Straßenzüge entfernt. Er schnellte aus dem Bett.
»Du hast mir noch immer nicht deinen Namen verraten«, sagte Florine und drehte sich um.
Sie fand einen leeren Raum und ein heillos zerwühltes Bett vor. Ihr Liebhaber war verschwunden, ohne ihr seinen Namen zu nennen. Einzig seine am Boden verstreuten Kleider überzeugten sie davon, dass er und die vergangene Nacht kein Produkt ihrer Phantasie gewesen waren.
»Großartig«, murmelte sie und klaubte die Kleidungsstücke vom Boden auf.
Sorgfältig schüttelte sie das Justaucorps und die Weste aus und hängte sie über einen Stuhl, stellte seine Stiefel dazu und faltete seine Hose. Nachdem sie auch sein Hemd geglättet und zusammengelegt hatte, sah sie sich um, als könnte jemand sie beobachten. Da dies natürlich nicht der Fall war, gab sie ihrem Bedürfnis nach und drückte zuerst ihre Nase, dann ihr Gesicht in das dünne Batist des Hemdes. Es roch nach Seifenlauge und dem Sonnenschein, in dem es getrocknet war.
Eine überirdische Nacht lag hinter ihr. Nicht nur einer, sondern etliche wunderbare Höhepunkte. Jetzt wusste sie, weshalb man sie die kleinen Tode nannte und fühlte sich lebendiger denn je. Wer war er, ihr unbekannter Liebhaber? Bei dem Gedanken an ihn lächelte sie. Als sie sich dabei ertappte, wie sie verträumt vor sich hinsummte, legte sie das Hemd schleunigst beiseite. Sie benahm sich wie ein schwärmerisches Mädchen, dabei war sie eine vernunftbegabte Frau. Sie räusperte sich und zwang sich dazu, den Tag zu beginnen, als sei es einer wie jeder andere.
Dicht an den Hausmauern streifte er durch die Straßen. Da die Sonne noch nicht über die Dächer der Ortschaft gekrochen war, wurde er mit den Schatten eins. Seine Pfoten trafen nahezu lautlos auf das Kopfsteinpflaster. Vor einer Ecke wurde er langsamer. In die Morgenluft hatte sich ein Geruch gewoben, der sich wie ein Spinnennetz um seine Nase legte. Er schob die Schnauze vor, dann ein Auge und spähte um die Ecke. Für die Augen des Wolfes besaß die Umwelt keine Farben. Stattdessen bot sie ihm alle Facetten von Grau dar. Die Livreen der Lakaien waren von hellem, die Blutlachen am Boden von sehr dunklem Grau. Er konntedie Aufregung und Sorge der beiden Diener riechen. Ihre Stimmen waren gedämpft, doch nicht so leise, dass er sie nicht hören konnte.
»Sieht aus wie der Waffelbäcker. Glaubst du, die haben’s hier auf der Straße getrieben?«
»Das ist mir schnurz! Lass uns lieber verschwinden. Wir gehen zurück ins Haus und haben nichts gesehen. Soll doch ein anderer die beiden finden.«
»Das können wir nicht machen. Um den Waffelbäcker ist’s mir gleich, aber der andere … sieh dir seine Schuhe an. Rote Absätze. Den Tod eines Aristokraten müssen wir melden.«
»Glänzende Idee. Sie werden uns Fragen stellen, die wir nicht beantworten können, und am Ende fällt ihnen noch ein, uns beide zu verdächtigen.«
Auf den kurzen Disput verfielen die Lakaien in Schweigen. Der eine schob die Hand unter seine Perücke und kratzte seinen Kopf. Der andere nestelte an seinem Hemdkragen.
»Es sieht aus wie nach einem Massaker.«
»Ich sag dir wie’s gewesen ist. Die beiden haben’s auf offener Straße miteinander gemacht und haben die Kutsche nicht gehört.«
»Was für ’ne Kutsche?«
»Irgendeine Kutsche eben, die sie überrollt hat. So was soll vorkommen. Die Räder haben sie zermalmt mitten beim Ficken.«
Den Toten war nicht das Glück beschieden gewesen, einer heranfahrenden Kutsche zu begegnen. Dieser hätten sie ausweichen können. Sie waren die Opfer eines Angriffs geworden, der Flucht ebenso sinnlos machte wie Gegenwehr. Das Gesicht des Waffelbäckers war noch zu erkennen, das seines Leidensgefährten zu unkenntlichem Brei geworden. Ihre Brustkörbe waren aufgerissen, die Rippen auseinander gebogen. Abseits von Paris und seinen Katakomben hatte ein Namenloser die Innereien seiner Beute verschlungen und ein Blutbad hinterlassen.
»Das kann keine Kutsche gewesen sein. In der Cité soll es vor Kurzem zu etwas Ähnlichem gekommen sein. Man fand eine Bettlerin und ihr Kind in einem Hauseingang. Ihren Mörder nennen sie den Schlachter. Mehr weiß man nicht über ihn.«
»Mist! Warum musst du ausgerechnet draußen an die Mauer
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