Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
Vorsprung vergrößerten, dieser aber rannte in sturer Panik geradeaus auf den Waldrand und ein offenes Feld zu. Damit gab er seine Instinkte und seine Deckung auf und war verloren. Der Wolf holte auf.
Halme streiften seinen Bauch und kitzelten über seine Nase. Er wurde zu einem gestreckten Pfeil inmitten einer wilden Wiese. Dumpf trommelten seine Pfoten auf das Erdreich. Nun war er nah genug, um den harten Herzschlag seiner Beute hören zu können. In einem letzten Versuch zu entkommen, schwenkte der Hirsch ab. Mühelos hielt der Wolf mit, erhaschte einen Blick in ein feucht glänzendes Auge tiefsten Brauns und setzte zu einem gewaltigen Sprung an. Im kurzen Augenblick der Schwebe, da ein weites Maul auf eine Kehle zuhielt, zerschmolzen Jäger und Gejagter zu einer Einheit, verbunden durch das Tosen ihres Blutes. Der Rausch der Jagd würde dem einen den Tod und dem anderen einen vollen Magen bringen.
Der Biss brachte den Hirsch zu Fall. Seine Vorderbeine knickten ein, und getragen von beider Schwung überschlugen sich Wolf und Hirsch. Der Wolfskiefer verkrampfte, seine Zähne zertrennten Sehnen, Nerven und Knochen. Als die Augen des Hirsches ihren Glanz verloren und brachen, ließ der Wolf von der Kehle seiner Beute ab und wandte sich dem weichen Bauchbereich zu. Kurz darauf begann er zu fressen.
Die Leibesmitte des Wolfes schwang prall von einer Seite auf die andere, als er in den Wald zurückkehrte. Das Gluckern eines tiefen Bachlaufs lenkte ihn. Er stelzte vorsichtig hinein und trank. Sein Blick suchte die Umgebung ab, blieb wachsam und quecksilbrig, selbst nach erfolgreicher Jagd und einem tiefen Sättigungsgefühl. Der anbrechende Abend tauchte den Wald in ein Licht aus dunklem Gold und setzte Glanzlichter auf die Wasseroberfläche. Der Felsstein, der flach über das Nass ragte, war Aussichtspunkt und Ruheplatz in einem. Zufrieden wälzte sich der Wolf auf dem von der Sonne erhitzten Stein. Seine Pfoten tanzten durch die Luft, dann blieb er auf der Seite liegen und schloss die Augen. Sein Bauch war voll, die letzten Strahlen des Tages warm und die erfolgreiche Jagd sorgte für Seelenfrieden. Die gespitzten Wolfsohren fingen das Rascheln der Blätter ein, das Keckern eines Eichhörnchens und das Knacken eines spröden Asts im Wald. Das stete Rauschen des Wassers wurde zu einer einschläfernden Melodie.
Jäh schreckte er aus seinem Dösen auf und hob den Kopf. In einiger Entfernung kam ein Mann zwischen den Bäumen auf ihn zu. Keine Gefahr, ein Freund, dessen Geruch ihm bekannt war. Ein kehliger Laut hieß den Mann willkommen, der sich langsam näherte und ein Bündel ablegte.
»Falls Ihr pünktlich eintreffen wollt, ist es an der Zeit, Chevalier.«
Wolfsohren spielten, suchten den Sinn der Worte zu erfassen und fanden ihn im ruhigen Tonfall des Menschen. Er war ein Chevalier, und der Name des Mannes war Bertrand. Nachdem der Wolf gegähnt hatte, klappte sein Maul hörbar zu.
»Ihr habt mich gebeten, Euch an Eure Verabredung zu erinnern, Herr«, rechtfertigte sich Bertrand und setzte sich neben die ordentlich gefaltete Kleidung seines Herrn. Nach einer kurzen Musterung grinste er. »Diesmal habt Ihr Euch überfressen. Von dem Hirsch ist nicht mehr viel übrig.«
Mit einem Brummen sprang der Wolf auf und schüttelte sich. Von der Schnauze bis zu seinem gestreckten Schweif wurde er zu einem rotierenden Fellbündel. Kurz darauf setzte die Verwandlung ein. Cassian kam auf die Füße, wischte sich das Haar aus den Augen und streckte sich. Die Schlankheit seines Körpers wurde von einem kugelartigen Bauch gestört. Spöttisch und besorgt zugleich zog Bertrand die Augenbrauen in die Höhe.
»Ihr werdet Magenschmerzen bekommen.«
Die hatte er bereits. Weder würden sie ihn von irgendetwas abhalten, noch wollte er sie vor Bertrand eingestehen. Bis Mitternacht blieb ausreichend Zeit, in der sein Bauch in die gewohnte Form zurückfinden konnte. Er hatte die Jagd und die Massen an rohem Fleisch gebraucht, um den Aufruhr einzudämmen, den Florine in ihm zurückgelassen hatte. Küsse allein reichten ihm nicht, und zu mehr war es am Nachmittag nicht gekommen. Florine würde heute Nacht keinen Hinweis auf seine Fressorgie vorfinden. Einzig die Narben waren verdächtig, da sie durch die Verwandlung zu zwei blassen Fäden auf seiner Haut geworden waren. Diese würden ihm bis an sein Lebensende erhalten bleiben.
»Es ist noch genügend Zeit für ein Bad«, stellte er fest.
Der Himmel über den Baumwipfeln war noch
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