Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
gesagt, dass er sie brauchte, und so wie er da stand und seine Kleidung richtete, dabei gleichzeitig Abstand zu ihr einhaltend, kam es ihr nicht mehr ganz so unglaubwürdig vor. Ihre Angst vor ihm schien ihr plötzlich übertrieben. Gewalt hatte er ihr gegenüber nicht gezeigt. Ganz im Gegenteil, seine Berührungen waren sanft, sein Mund brannte selbst jetzt noch auf ihren Lippen und forderte eine Fortsetzung. Außerstande ihm sein Verhalten nachzutragen, zumal es aus Sorge resultierte und dem Bedürfnis sie zu beschützen, trat sie zu ihm und streifte sein Haar hinter seine Ohren. Eine einzelne Strähne entging ihr, durch die er sie, überrumpelt von ihrer Geste, anblinzelte. Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, hob sie sich auf die Zehenspitzen, umschlang seinen Nacken und küsste ihn mit einem Heißhunger, der ihm jede Schandtat verzieh. Es war dumm, vielleicht sogar gefährlich, aber sie konnte nicht anders. Sie wollte ihn mehr als alles andere auf der Welt.
Die Geldbörse klimperte schwer in Saint-Germains Rocktasche, als er einen geistesgegenwärtigen Satz hinter die Hausecke machte. Er kannte die Equipage, die in rasanter Fahrt in den Hof einfuhr, gezogen von vier prächtigen Wallachen mit glänzend fuchsrotem Fell. Ihre Mähnen wehten um ihre stolz gebogenen Hälse, und ihr Hufschlag wurde von den Hofmauern zurückgeworfen. Das Wappen auf der Equipage war in vier Hälften geteilt. Oben rechts war ein Tor zu sehen, dessen Bogen scharfe Zacken aufwiesen. Unten links ein Turm, gekrönt von spitzen Zinnen. Die Zeichen bildeten jeweils die Hälfte eines Ganzen, aber dass Tor und Turm für sich betrachtet keinen Sinn ergaben, war nach Saint-Germains Wissen noch keinem aufgefallen. Geschweige denn, dass jemand sich die Mühe machte, sie - wenn auch nur in Gedanken - übereinander zu legen, um den Sinn zu erkennen. Erst dann nämlich sah man, was sich dahinter verbarg: das offene Maul eines Wolfes. Somit musste in der Equipage Cassian de Garou sitzen, ein Mann der nicht dazu neigte, an den Ort einer einmal erlittenen Demütigung zurückzukehren.
Allerdings sah Saint-Germain zunächst niemanden im offenen Innenraum der Equipage. Stattdessen fiel ihm die mürrische Miene des Kutschers auf, der stur die Augen nach vorne richtete. Erst als er das Gefährt zügelte, erhaschte Saint-Germain einen Blick in die Lederpolster. Wenn das nicht außerordentlich war. Zwar war der Name Garou bezeichnend für einen Loup-Garou von altem Geschlecht – obwohl auch das seinem Umfeld unbekannt war – und die Triebe seines alten Blutes legendär, aber bisher hatte sich der Werwolf selten mit Frauen in der Öffentlichkeit gezeigt. Erst recht vergnügte er sich nicht bei hellem Tageslicht mit ihnen in einer offenen Equipage, damit ihm jeder dabei zusehen konnte. Wer immer sie war, sie wurde unter Cassian begraben, der nichts Besseres zu tun hatte, als sie vor aller Augen zu verschlingen.
»Wir sind da«, sagte der Kutscher, ohne seine starre Blickrichtung aufzugeben.
Ein Werwolf reinen Blutes ließ sich in seinem Vergnügen nicht stören, zu groß war sein Bedarf an Befriedigung. Und Cassian de Garou wilderte in allen Gesellschaftsschichten. Von der Herzogin bis zum Blumenmädchen war keine vor ihm sicher – nun also eine Kurtisane. Das machte Saint-Germain stutzig und neugierig zugleich. Er war gespannt, welches der Mädchen aus dem Haus Chrysantheme die Aufmerksamkeit des Werwolfs auf sich gezogen hatte.
»Wir sind da, Herr«, wiederholte der Kutscher nachdrücklicher.
Im Aufrichten zog Cassian seine Begleitung mit sich. Verblüfft weiteten sich Saint-Germains Augen. Die kleine Mamsell! Weniger adrett, da ihr Haar offen und unordentlich war – sogar eine Haarnadel sah er darin wippen –, aber sie war es, und es war offensichtlich, dass der Werwolf nicht von ihr ablassen konnte. Seine Hände waren überall, an ihrem Hals, den Schultern, auf ihrem Rücken, um ihre Taille. Sein Mund klebte noch an ihren Lippen, als sie im Rückwärtsgang aus der Equipage stieg. Wer von den beiden den anderen stärker berauschte, konnte Saint-Germain nicht erkennen, zu groß war seine Überraschung.
Schritte scheuchten ihn auf. Ein Bursche trug zwei Eimer aus einem Nebeneingang. Sein Name war ihm entfallen. Vage erinnerte er sich, ihn schon gesehen zu haben. Er winkte ihn zu sich.
»Er da, zu mir.«
Als der Bursche zu ihm schwenkte, fiel es Saint-Germain wieder ein. Dieser Narr hatte sich dem Werwolf entgegenstellt und
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