Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
instinktiv, unüberlegt und schienen ihr gleichzeitig die einzig richtige Lösung zu sein. Geradezu gottgewollt.
»Töte sie, Cassian. Schneide ihnen mit dem Dolch die Kehlen durch.«
»Es wird wissen, dass wir hier waren.«
»Es?«
»Die Mutter. Es wird unsere Witterung aufnehmen. Du musst gehen, Florine. Ich kümmere mich darum.«
Sie spähte in die Gänge, versuchte vergeblich die Dunkelheit zu durchdringen. Wenn sie von der Höhe und Breite dieser Tunnel ausging, musste die Mutter riesig sein. In ihren Beinen kribbelte das Verlangen davonzurennen.
»Ist es in der Nähe?«
»Nein, sonst hätte es uns längst aufgespürt.«
Fordernd streckte sie die Hand aus. Sie war kein Feigling, und sie würde Cassian nicht allein zurücklassen. »Gib mir das Licht. Ich halte es für dich.«
Er reichte ihr das Öllicht. Nach einem letzten forschenden Blick in ihr Gesicht, beugte er sich über das Nest. Mühsam atmete sie. Ihr Widerwille wurde so groß, dass sie zu zittern begann, als sie sah wie Cassian die Missgeburten berührte. Seine schönen Hände glitten über faltige Haut und kahle Köpfe ohne erkennbare Ohren. Sollte das eine Liebkosung zum Abschied werden?
»Was machst du da?«
»Ich lege eine Fährte. Dreh dich um.«
Weder wusste sie, was er mit einer Fährte meinte, noch weshalb sie sich umdrehen sollte. Erst als er einen Fuß in das Nest setzte, ahnte sie etwas. Trotzdem wandte sie die Augen nicht ab. Das Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass keine dieser Kreaturen überlebte, war stärker als alles andere. Sie fiepten und drehten sich um die eigenen Achsen, in dem Versuch, ihrem Nest und den Stiefeln zu entkommen. Stroh raschelte hektisch, und eines der kleinen Monstren riss das Maul auf und zeigte zwei Reihen spitzer Zähne. Unter Cassians Stiefelabsatz zerbarst der Kopf der Kreatur, bevor sie zubeißen konnte. Blut und eine weiche Masse quollen in das Stroh. Cassian stampfte und trat auf die Missgeburten ein. Fäulnis stieg von den zuckenden Leibern auf, ein unerträglicher Gestank, der mit nichts zu vergleichen war. Sie stierte auf die zertretenen Leiber, benommen von Übelkeit und Erleichterung. Letzteres gewann die Oberhand. Sie waren vernichtet, so gründlich, dass kein Knochen in den abartigen Körpern heil geblieben sein konnte. Cassian stieg aus dem Nest, seine Stiefel gezeichnet von feuchten Schlieren.
»Lauf!«
Diese Anweisung musste er kein zweites Mal geben. Sie wirbelte herum und rannte die Steigung des Ganges hinauf, zurück zu dem Loch und in eine Welt, in der die Geschöpfe, die sie gesehen hatte, nicht existierten. Vor dem Durchlass warf sie sich zu Boden und stieß sich kraftvoll hindurch. Cassian folgte ihr dichtauf und schob den Quader zurück in die Wand. Verloren stand Florine inmitten warmer Lichter, die noch immer einen vagen Hauch von Minze absonderten.
»Du wirst mit mir kommen. Ich lasse dich nicht hier. Geh in dein Zimmer und hole deine Sachen. Wir treffen uns am Hoftor. Beeil dich!«
Paris war weit weg von einem Nest zertretener Ungeheuer. Ein Einwand kam ihr nicht über die Lippen. Sie wollte fort, so weit wie irgend möglich. Wortlos schnappte sie sich ihr Kleid und rannte durch den Garten auf das Haus zu. Im Rennen streifte sie das Kleid über den Kopf. Schließen konnte sie es später, wenn ihre Finger nicht mehr zitterten und sie dieses grässliche Bild losgeworden war, das sie noch immer vor Augen hatte.
Im Haus war das Fest in vollem Gange. Das Klirren der Gläser, Stimmengewirr und Gelächter, selbst das Grölen eines Freiers, der ein unzüchtiges Lied zum Besten gab, klangen wunderbar normal. Als gäbe es keinen Gang hinter der Grotte, kein Nest und keine zertrampelten – was immer es gewesen war.
Um nicht aufgehalten zu werden, hechtete sie die Hintertreppe hinauf. Unter ihrem Bett zog sie eine kleine Ledertasche hervor und warf wahllos ein Bündel Hemden, Strümpfe und Strumpfbänder hinein. Ihr Unterarm wischte die Utensilien auf ihrem Frisiertisch dazu. Die Tasche unter den Arm geklemmt, stürmte sie die Treppe hinunter und schoss aus der Hintertür. Dort endete ihre Flucht.
5
E
twa eine halbe Stunde wartete Cassian in der Grotte auf den Angriff eines in Rage versetzten Namenlosen, gegen den er, bewaffnet mit einem Dolch, keine große Chance hatte. Die Wand im Rücken harrte er eines Aufschreis, der typischen Kakophonie aus schrillen und tiefen Tönen. Alles blieb ruhig. Der Namenlose hatte sich abgesondert, für seine Brut einen ruhigen Ort
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