Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
gehalten.
Die Dächer von Paris erlaubten Mica einen freien Einblick in die Straßen und Gassen. Giebel, schmale Firste und die Klüfte zwischen den Häusern waren für ihn kein Hindernis. Die Schornsteine nutzte er als Deckung, da seine Kleidung trotz der Flecken aus Schmutz und Blut in der Dunkelheit leicht auszumachen war. Er baute darauf, dass die Pariser, insbesondere diejenigen, die um diese Zeit unterwegs waren, selten dazu neigten, den Nachthimmel zu betrachten. Den Vorsprung des Mädchens hatte er schnell eingeholt. Ein Stück vor ihm schlug sie Haken in den engen Gassen, scheinbar ohne Ziel und Verstand. Dadurch zwang sie ihn immer wieder zu langen Sätzen über die Abgründe der Straßenschluchten, damit er sie nicht aus den Augen verlor. Ihre Flinkheit schob er auf den Schreck, und gleichwohl blieb sie beachtlich. Das Mädchen huschte an trunkenen Nachtschwärmern und Bettlern vorüber, ehe diese sie gewahrten oder gar nach ihr haschen konnten. Es fehlte jegliches Anzeichen von Ermüdung.
Auch der Wolf folgte ihr dichtauf, blieb jedoch außer Sichtweite in parallel verlaufenden Gässchen. Ein dunkles Schemen, die Deckung der Hauseingänge nutzend. Vor den Menschen konnte Cassian sich verbergen, Mica hingegen wusste zu jeder Zeit, wo er sich befand. Seine Hartnäckigkeit versetzte den Vampir in Weißglut. Natürlich konnte Cassian nicht wissen, wer das Mädchen war – aber das änderte nichts an den Tatsachen. Der ärgste Feind eines Vampirs, ein Werwolf, hatte es gewagt, sich an Maries Kind zu vergreifen. An Micas eigenem Fleisch und Blut. Seiner Tochter.
Allein dieser Gedanke wollte ihn in die Knie zwingen. All die Jahre, vergeudet und verloren, hatte er sein Kind für tot gehalten. Sie hieß nicht Florine. Marie hatte sie auf einen alten, mythologischen Namen taufen lassen: Penelope. Von der Liebe ihrer Mutter zur griechischen Mythologie wusste das Mädchen nichts. Ihr Taufname würde ihr nichts sagen. Es war gleichgültig wie sie sich nannte, ob Penelope oder Florine. Mica hatte in ihr den Säugling erkannt, der in jener Blutnacht vor achtzehn Jahren verloren gegangen war. Florine hatte überlebt, war herangewachsen und zur Frau gereift. Sein einziges Kind von einer Sterblichen war ihm ein zweites Mal geschenkt worden. Und diesmal würde er es nicht verlieren.
Vor einem Haus blieb sie stehen und sah an der Fassade hinauf. Das Fachwerk war schief, das Gebäude schien nur von den Nachbarhäusern am Einsturz gehindert zu werden. Blinde Fenster und ein garantiert undichtes Dach. Der Wolf verschwand in einem Hauseingang, aus dem wenig später Cassian heraustrat, angetan mit einer lappigen Hose, die er einem Dieb oder Bettler geraubt haben musste. Er wollte einfach nicht aufgeben, und es würde nicht lange dauern, bis er eine Verbindung zwischen den Straßen fand, um zu Florine aufzuschließen. Unterdessen blieb Mica höchstens noch eine Stunde bis Sonnenaufgang. Er musste eine Entscheidung erzwingen, ob durch einen weiteren Kampf gegen den Wolf oder aber indem er Florine für sich gewann. Letzteres schien ihm die leichter zu lösende Aufgabe. Er sprang von den Dächern in die Tiefe. Der Aufprall seiner Lederstiefel auf dem Straßenpflaster war gedämpft und erregte kein Aufsehen.
»Um diese Zeit sollte keine Demoiselle allein auf der Straße stehen. In diesem Viertel treibt sich zu viel Gesindel herum«, sprach er Florine an, bemüht um einen sanften Tonfall.
Sie war in größter Verwirrung davongerannt, und obgleich es keine Einigkeit zwischen Vampir und Wolf gab, so teilten sie immerhin die Absicht, sie nicht in noch größere Ängste zu versetzen. Fest rieb sie sich mit dem Handrücken über die Augen, eine Geste voller Trotz.
»Ich kenne dieses Viertel.«
»Sollte ich der Auslöser deiner Tränen sein, würde ich das zutiefst bedauern, Kind. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an all die Jah…«
Hölle, sie warf ihm einen Blick zu, als wollte sie in der nächsten Sekunde handgreiflich werden. Ein Menschenkind, zerbrechlich, schwach, sterblich, und von so tiefem, wildem Zorn erfüllt, dass er sich in Wellen an ihm brach. Er presste die Lippen aufeinander, sich des eigenen Versagens bewusst. Er hätte es besser wissen müssen, mehr Vertrauen in ihr Kindermädchen setzen sollen, nicht aufgeben dürfen. Nicht nur Marie hatte er verloren, sondern auch sein Kind im Stich gelassen. Gram um den Verlust hatte seine Ahnungen ausgelöscht, und der Anblick ihres zur Unkenntlichkeit zerfetzten
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