Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
Die Sterne begannen zu verblassen, die Nacht neigte sich dem Ende zu. Die Tür öffnete sich, und Florine fiel schier in den dunklen Eingang hinein und knallte die Tür eilends wieder zu. Ein Riegel scharrte über Holz. Kein Hindernis für Mica, auch nicht für Cassian, aber hier und jetzt konnten sie nichts ausrichten. Mica nahm es gelassen. An Zeit fehlte es ihm nicht, nichts drängte ihn, jetzt da er wusste, wie er Florine finden konnte. Saint-Germain konnte sie im Auge behalten. Lauernd glitt Mica auf Cassian zu. Dieser starrte das Haus an, als könne er durch die Mauern blicken. Sein ebenmäßiges Gesicht war zu einer Maske aus Schmerz verzerrt. Die Niederlage war vollkommen.
»Du hast sie gehört. Sie will dich nicht wieder sehen. Es gibt keinen Grund, dich noch länger hier herumzudrücken.«
»Wenn du es wagst, sie zu deinem Geschöpf zu machen, töte ich dich, Mica.«
»Was immer geschieht, ich werde ihr kein Leid zufügen. Darauf hast du mein Wort, Werwolf. Sollte ich es brechen, kannst du mich auslöschen und ich werde mich nicht zur Wehr setzen.«
In der langen Geschichte ihrer Feindschaft war es noch nicht zu einem Schwur mit solchen Konsequenzen gekommen. Cassian schluckte, warf dem Haus einen letzten, düsteren Blick zu und zog sich zurück. Die Gefahr war abgewendet, und der erste rötliche Streifen über Paris zwang auch Mica zum Rückzug. Anders als Cassian de Garou würde er zurückkehren.
»Wo hast du dich herumgetrieben? Spare dir eine Antwort. Ich ahne es. Sapperment, Cassian, was habe ich dir gesagt? Muss ich es dir mit Hammer und Meißel in dein Hirn schlagen? Du bist besessen von den Hurenkniffen dieses Mädchens und lässt dich vom Wesentlichen ablenken. Dein Bedürfnis, dieses Weib zu begatten schadet nicht nur dir, sondern auch deinem Bruder und mir!«
Die Vorwürfe hagelten vom oberen Ende der Treppe auf ihn herab. Er kehrte in einem verlausten Fetzen in sein Haus zurück und musste sich von seinem Vater herunterputzen lassen wie ein Jungwolf.
»Lass mich zufrieden«, erwiderte er müde.
Im Vorbeigehen streifte er Juvenal, nicht bereit, einen Bogen um ihn zu machen. Eine unbarmherzige Hand grub sich in seine Schulter und warf ihn herum. Das reichte, um seine Wut ins Unermessliche zu steigern. Seine Hand schnellte vor, spannte sich um Juvenals Kehle und drückte ihm den Atem ab. Ungeachtet der gesträubten Haare und der gefährlichen Färbung, die in die Augen seines Vaters floss, rammte er ihn gegen die Wand. Sie standen so dicht voreinander, dass Cassian beobachten konnte, wie aus dem Rand der Iris gelbe Stromlinien in das dunkle Braun flossen. Er widerstand der Versuchung, seinem Vater einen Kinnhaken zu versetzen, schmetterte stattdessen seine Faust in einen Wandspiegel neben Juvenals Kopf. Splitter regneten auf sie herab. Das Eindringen der Scherben in seine Haut brachte Cassian halbwegs zur Besinnung.
»Ja, ich war in Versailles. Ich habe dort ein Nest aufgestöbert und zerstört. Es gehörte dem Namenlosen, den ich angegriffen habe. Er wollte seine Brut abseits aller anderen aufziehen«, zischte er seinem Vater ins Gesicht. »Und wenn du es noch einmal wagst, das Mädchen vor mir zu erwähnen, bringe ich dich eigenhändig um, so wahr ich hier stehe.«
»Lass mich los.«
Juvenal war leise und artikulierte jedes Wort, nicht bereit, sich einschüchtern zu lassen.
Vielmehr stand er davor, die Rangordnung klarzustellen. Er war imstande, Cassian Paris zu nehmen, sein Rudel unter seinen Willen zu zwingen und seinen Sohn aus dem eigenen Hort zu vertreiben, sich bewusst, dass keiner seiner Söhne soweit war, ihm die Spitze an der Sippe streitig zu machen. Dennoch schien ihm nichts daran zu liegen, denn er setzte sich nicht zur Wehr. Cassian ließ von Juvenal ab und trat zurück.
»Du hast eine Brut vernichtet. Gut gemacht«, gönnte Juvenal seinem Sohn sogar ein Lob und strich mit einer Hand sein schwarzes Haar glatt. »Wo befand sie sich?«
»In einem unterirdischen Bau direkt unter dem Haus der Chrysantheme.«
»Der Namenlose selbst?«
»Hat sich nicht blicken lassen.«
Cassian war der Worte müde. Florine hatte sich von ihm losgesagt und ihn ein Tier genannt. Allein das bedrückte ihn in einem Maß, das er nicht erwartet hatte. Die Intensität seiner Gefühle verstärkte seine Niedergeschlagenheit. Unentwegt musste er an sie denken. An ihre Vehemenz beim Anblick der Brut, an ihr Entsetzen, als sie erkannte, was er war. Und an ihren Ekel, den sie ihm ins Gesicht
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