Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
ihre Freundin so manche Wurst aus dem Laden ihres Vaters stibitzt. Sie hatten sich gestritten und versöhnt. Und nun lag Olymp vor ihr, auf einem kalten, harten Boden, bedeckt von einem Laken und sollte in einen Sarg gelegt und in die Erde versenkt werden mitsamt ihrer Träume.
Florine nahm eine Locke in die Hand und ließ sie durch die Finger gleiten. Unter der weichen Berührung krümmte sie sich. Aus ihren Augen floss ein Sturzbach und nässte ihr Gesicht. Zuerst kamen die Tränen lautlos, doch dann wurde der Schmerz so stark, dass sie ihn herausschreien musste. Weder ihre Schreie noch ihre Tränen konnten den Knoten in ihrer Brust lösen. Er wurde enger und enger, wurde zu einem Panzer, der ihre Lunge zusammenpresste. Ihr Schluchzen wurde hart, sie glaubte ersticken zu müssen. Drei Freunde hatte sie verloren. Drei Menschen, die ihr ähnelten, die von Kindesbeinen an auf Beistand verzichten mussten, die auf sich selbst gestellt und dem Rest der Welt gleichgültig waren. Drei sichere Säulen in ihrem Leben - trotz gelegentlicher Zankereien und ernsthafter Auseinandersetzungen - waren von einem Ungeheuer gerissen worden.
Sie sah Blut an ihren Handballen und auf den Steinfliesen, auf die sie mit aller Kraft eingeschlagen hatte. Ihr fehlte jede Erinnerung an diesen Ausbruch, bei dem sie sich selbst verletzt hatte. Achtlos wischte sie die Hände an ihrem Rock ab und bemerkte den Geruch, der von den Toten kam. Ein Hauch von Zersetzung und Verrottung. Sie erhob sich und verließ den Raum, auf ein letztes Gebet verzichtend. Gebete hatten ihresgleichen noch nie vor einem Unglück bewahren können.
Madame Chrysantheme und die Mädchen hatten sich in der Küche versammelt, dem einzigen Ort im Haus, der die Verwüstung glimpflich überstanden hatte. Trotz der Sommerhitze saßen sie dicht am Herdfeuer. Aimée rührte einen Punsch an und füllte für Florine einen Holzbecher. Rum, Eier und viel Zucker. Sie verbrühte sich die Zunge daran. Schweigend tranken sie. Madame Chrysantheme schien von einer Lähmung ergriffen und sah uralt aus.
»Weshalb sind sie nicht mit euch gegangen?«, fragte Florine in die Runde.
»Lucas sollte das Haus im Auge behalten. Olymp und Giselle …« Bella zuckte die Achseln. »Sie gaben nicht viel auf die Warnung. Sie waren beide betrunken und legten sich zu Bett. Sie haben geschlafen als ihr Mörder kam und bestimmt nichts mitbekommen.«
Im Herd knisterte und knackte das Feuerholz. Stumm gedachten sie ihrer Toten. Nur Florine selbst dachte an die vier hässlichen, nackten Ausgeburten, auf deren Vernichtung sie bestanden hatte. Sie hatte das Unglück heraufbeschworen. Auf ihrem Gewissen lastete der Tod ihrer Freunde. Sie versuchte sich das Vieh vorzustellen, um vieles größer als seine Jungen, abartig verunstaltet. Sein Anblick musste ausreichen, um ein Herz zum Stillstand zu bringen. Hatten ihre Herzen aufgehört zu schlagen, ehe sich Klauen in sie gruben und ein riesiges Maul sie gerissen hatte? Sie hoffte es. Sie betete inständig darum.
»Ich bin am Ende. Nichts ist mir geblieben. All die Jahre …«, sagte Madame Chrysantheme in die Stille und konnte ihren Satz nicht beenden.
»Wir werden alles wieder aufbauen, Madame. Alles! Gemeinsam werden wir aus dem Haus das machen, was es gestern noch gewesen ist. Ihr dürft Euch nicht geschlagen geben. Keine von uns wird das.«
»Aufbauen? Ich habe keine Rücklagen. Ohne Mittel sind mir die Hände gebunden, denn kein Freier wird das Haus betreten nach diesem Gemetzel, das hier stattgefunden hat.«
»Selbst die Sergeanten der Polizei wissen nicht, was geschehen ist. Die Morde ähneln denen an den Toten, die sie vor Kurzem auf der Straße gefunden haben, auch in Paris kam es zu Vorfällen, das ist alles, was sie dazu sagen konnten. Der Schlachter ist wohl nicht nur hier, sondern auch in der Cité unterwegs«, sagte Kalinka.
»Ich bin bankrott«, setzte Madame Chrysantheme hinzu und wollte zurückfallen in die Starre der letzten Stunden.
»Wir werden Geld auftreiben, irgendwie. Wir müssen zusammenhalten. Die Freier können woanders empfangen werden. Ihr seid keine billigen Huren, sondern Kurtisanen. Ihr singt und tanzt und versteht euch auf Konversation. Eure Gesellschaft ist Gold wert, daran werden wir sie erinnern.«
»Die Lillac würde mich sofort aufnehmen«, sagte Kalinka.
Florine packte das Mädchen an den Haaren und schüttelte sie. »Wenn ich dich bei der Konkurrenz erwische, kannst du dich auf was gefasst machen. An den Haaren werde
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