Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
Erschütterung war viel zu groß, um Tränen zu vergießen. Das überließ sie Madame Chrysantheme, die derzeit nicht ansprechbar war. Ihre Träume und ihr Herzblut hatte Florine an das Haus gehängt, aber das Zerstörungswerk trug nicht die Schuld am Brennen ihrer Augen oder an dem Riss, der ihren Leib in zwei Hälften zu teilen schien. In ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme hohl, kam aus einem Schacht, tief in ihrem Inneren, aus dem Qual und Seelenpein aufstiegen.
»Wo sind sie?«
»Mute dir das nicht zu, Florine. Es hilft doch nichts.«
Sybilles aparte Züge wurden von ihren geschwollenen, rot unterlaufenen Augen beherrscht. Sie klang erstickt.
»Ich muss sie sehen.«
Sybille führte sie zu einer Tür neben der Küche. Im Winter trocknete in dieser Kammer die Wäsche. Die Mädchen hatten sich davor versammelt. Bella auf der untersten Treppenstufe, den Kopf an die Knie gedrückt. Kalinka neben ihr wiegte sich vor und zurück, den Blick nach innen gerichtet. Aimée lehnte an der Wand, von einer Blässe gezeichnet, die ihrer Milchkaffeehaut einen Stich ins Ocker verlieh. Keines der Mädchen folgte Florine in die Kammer. Auf sich selbst gestellt stand sie vor drei Konturen unter dünnen Laken. Einsam und von Gott verlassen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Auf einem Bauernkarren und zu Fuß war sie nach Versailles zurückgekehrt. Einen halben Tag hatte sie für die Strecke benötigt. Unterdessen war die Gerichtsbarkeit informiert worden, hatte den Schaden begutachtet und einen Bestatter geordert. Die Särge waren noch nicht angeliefert worden, so dass die Leichname auf dem blanken Boden liegen mussten. Drei Tote durch ihre Schuld. Sie schob ihren Fingerknöchel in den Mund und grub die Zähne hinein. Wenn sie bloß die Zeit zurückdrehen könnte und niemals in die Grotte gegangen wäre.
Vor dem ersten Leichnam ging sie in die Knie und zog das Laken zurück. Ein trockenes Keuchen schoss aus ihrer Kehle. Es war schlimmer, um so vieles schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Lucas war zu einem Bündel aus Fleisch und Blut geworden, aus dem die blanken Knochen ragten. An seinen Augen war er zu erkennen, um genau zu sein, an dem hellen Blau seines einzig verbliebenen Auges. Dort wo Mund und Nase gesessen hatten war ein blutiges Loch. Es war dahingestellt, welche Neigungen sie an Lucas letzthin entdeckt zu haben glaubte, er war ihr Liebhaber gewesen, der Mann, mit dem sie noch vor kurzem Zukunftspläne bis hin zur Heirat geschmiedet hatte, und nun war eine blutige Masse alles, was von ihm übrig geblieben war. Sie bedeckte ihn wieder mit dem Laken, bittere Galle im Mund.
Nachdem Lucas ihr bewusst gemacht hatte, was sie unter den Laken erwartete, zögerte sie, sich dem nächsten Leichnam zuzuwenden. Was würde sie vorfinden? Hörbar schlugen ihre Zähne aufeinander, als sie mit spitzen Fingern das Laken hob. Weitaus vorsichtiger als beim ersten Mal.
Giselle wirkte unversehrt. Trotz der winzigen Blutspritzer im Gesicht schien sie zu schlafen. Ihr Teint war durchscheinend geworden, glich hauchdünnem Porzellan mit einem leichten Eierschalenstich. Fünfzehn Sommer, davon einer im Haus Chrysantheme, mehr hatte Giselle vom Leben nicht erhalten. Dieses letzte Jahr mochte für das einstige Bettelkind das schönste gewesen sein, das sie erleben durfte, trotz all der Freier, die sie bedient hatte. Sich in einem Bett feilzubieten, war besser gewesen, als Sommers wie Winters barfüßig an Straßenecken zu stehen und die Hand aufzuhalten. Weiter als bis zu Giselles Hals hatte Florine das Laken nicht herabgezogen. Sie wollte nicht wissen, welche Wunden den Tod des Mädchens verursacht hatten. Einen letzten Kuss drückte sie auf die glatte Mädchenstirn, ehe sie das Laken wieder sorgsam über sie ausbreitete.
Vor der dritten Gestalt am Boden begann ihr Herz zu rasen. Sie zog das Laken nur soweit zurück, bis Olymps volle Locken zu sehen waren. Mehr konnte sie nicht ertragen. In dem dichten Blond haftete trockenes Blut, das die Zöpfe aneinander klebte. Beneidenswerte Engelslocken bis zur Taille hinab hatten Olymp zu einer Madonna gemacht, von einer Reinheit, die nicht darauf schließen ließ, dass sie die Tochter eines Metzgers war. Olymp war diejenige mit dem lautesten Organ gewesen und Florines engste Freundin. Sie hatten sich zu Anfang ein Zimmer geteilt, waren fast im selben Alter und sogar miteinander aufgewachsen. Damals noch, als sie bei Madame Balbeuf untergebracht war, hatte Olymp den Namen Louise getragen und für
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