Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
betrachtete den Schal, ohne ihn zu berühren. Leblose Gegenstände hatten ihr noch nie etwas über ihre Besitzer verraten. Das wusste er. Fest faltete sie die Finger ineinander und wartete ab.
„Überall haben wir nach ihr gesucht. Mein Rudel ist in ganz Rom ausgeschwärmt, ohne eine Fährte zu finden. Außer diesem Schal fehlt jede Spur von ihr. Sie waren es, nicht wahr? Sie haben Saphira erwischt.“
Sie zog die Schultern hinauf. Woher sollte sie wissen, was seiner Gefährtin zugestoßen war? Sie wollte es gar nicht wissen, und „sie“ sollten am besten nicht beim Namen genannt werden.
„Sag etwas, Aurora!“
Es brannte ihr auf der Zunge, ihm zu sagen, dass er seine Wahl getroffen und sie abgeschoben hatte. Saphira war seine Gefährtin geworden, während sein Mündel in einem Nonnenhabit steckte. Das hatte sie für ihre Zukunft nicht erträumt. Sie war zwanzig Jahre alt, eine alternde Jungfer, weil er es beschlossen hatte. All das kam ihr nicht über die Lippen. Sie schob die Hände tiefer in die weiten Ärmel.
„Vielleicht ist sie mit einem anderen durchgebrannt. Gab es da nicht diesen – sein Name ist mir entfallen. Er wilderte häufig in Rom.“
Der Gedanke war einleuchtend. Einst hatte sie ihren Rückzug in das Kloster für ein Unrecht und Tizzios Entscheidung für Verrat gehalten. Sechs Jahre veränderten vieles. Ihre kindliche Schwärmerei für ihren Vormund war verflogen. Sie sah auf seine zu Fäusten geballten Hände. Quadratisch waren sie, rötliche Haare sprossen auf den Handrücken. Vor seiner Dominanz wäre sie wohl auch irgendwann geflohen. In einer unwirschen Geste knüllte er den Schal zu einem Knäuel und stopfte ihn in seine Rocktasche.
„Saphira würde mich nie wegen eines anderen verlassen! Es waren die Larvae. Ich weiß es, ich spüre es!“ Hart schlug er mit der Faust gegen seine Brust. „Deine Ahnen tragen Schuld daran, Aurora. Du bist die Letzte aus der Hexengilde der Braglia. Du musst mir helfen!“
Jetzt hatte er sie doch beim Namen genannt. Den schwärzesten Fluch, den ihre Gilde jemals gewoben hatte. Ihre Finger krampften sich um ihre Unterarme.
„Ich werde für Saphira beten.“
Ein silbriger Schimmer stieg in seine dunklen Augen. Tizzio stierte sie in Grund und Boden. Unverfroren sah sie ihn an. Durch seine Schuld saß sie im Schoß einer Kirche, mit der sie nichts verband. Seinetwegen hatte sie sich von der Welt abkehren müssen. Er hatte den leichtesten Weg gewählt und kein Recht, von ihr etwas zu verlangen.
„Gebete!“, schnaubte er verächtlich. „Du wirst mit mir kommen und das Versteck der Larvae aufspüren.“
„Ich werde nicht zu deinem Lockvogel werden und mein Leben riskieren“, schoss sie ebenso vehement zurück.
Wieder sah er zum Fenster. Er kämpfte mit sich und seiner Herrschsucht. Hätte er sein Versprechen ihr gegenüber gehalten, so wäre sie heute an der Stelle seiner Gefährtin, bis hin zu der tödlichen Gefahr, in der er sie vermutete. Mit ihrem Eintritt in Santa Susana hatte er jeden Einfluss auf Aurora verloren. Endlich schien er zu begreifen. Als er wieder den Kopf zu ihr drehte, hatte er sich gefasst. Er griff über den Tisch, zog eine ihrer Hände aus dem Ärmel und umfasste sie. Beschwörend drückte er zu.
„Ich werde dich beschützen. Dir wird nichts zustoßen. Verlange von mir, was immer du willst. Ich werde jede Forderung erfüllen, wenn du Saphira findest und zu mir zurückbringst.“
Sie entriss ihm ihre Hand und schob sie zurück in den Ärmel. Sein Flehen drängte sie in die Ecke. Dabei wusste er, dass sie nicht helfen konnte. Sie machte ihrer Gilde keine Ehre. Wie auch? Anleitung hatte sie nie erhalten und somit auch nichts gelernt.
„Worte!“, stieß sie aus. „Die roten Wölfe haben meiner Familie einen Blutschwur geleistet, und doch ist es euch nie gelungen, uns vor Gefahren zu schützen. Dir wird es ebenso wenig gelingen.“
„Zum Teufel! Keiner deiner Vorfahren hat jemals so viel Angst mit sich herumgeschleppt.“
„Das liegt daran, dass keiner von ihnen sein Handwerk so schlecht beherrschte wie ich. Es ist nicht meine Schuld. Ich habe keine Macht und keine Mittel, um dir beizustehen, Tizzio. Es ist mir nicht gegeben. Du weißt es, und trotzdem kommst du hierher und forderst Unmögliches von mir.“
Für einen Mann von seiner Statur, dessen Muskeln sein Hemd sprengen wollten, wirkte er wenig beeindruckend. Er sackte für einen Moment zusammen. Sein Bart sträubte sich, seine Nasenflügel verkniffen sich.
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