Soehne des Lichts
losfliegen, als sie etwas am Ufer bemerkte. Für ein Stück Treibholz war es zu unförmig, nach einem ertrunkenen Tier sah es auch nicht aus.
Neugierig trat sie näher und erschrak – ein Menschenkind! Sofort duckte sie sich hinter einen Baum und suchte mit allen Sinnen. Regte sich etwas im Wald? Waren die Eltern des Kindes in der Nähe? Menschen, so nah bei der Sippe!
Doch alles war still. Misstrauisch näherte sie sich dem kleinen Geschöpf, das dort zusammengerollt am Ufer lag. Ein Mensch. Ein flügelloses Ding mit ausgebleichter Haut.
Lange kämpfte Roya gegen ihre Instinkte, geboren aus alptraumhafter Vergangenheit, die sie anschrien, dieses Ding zu töten, sollte es noch lebendig sein, oder zu fliehen, ohne sich umzudrehen. Letztendlich siegte die Heilerin in ihr und sie berührte mit zittrigen Fingern die Schultern des fremdartigen Geschöpfs. Der Mantel, den es trug, öffnete sich und offenbarte, dass es sich um ein weibliches Geschöpf handelte. Diese hell schimmernde Haut, heller als Schnee, so etwas hatte Roya noch nie gesehen. Was waren das für Hautmuster am Hals, sie wirkten fast wie Tätowierungen? Als sie spürte, dass der zarte Körper noch lebte und atmete, verstärkte sie den Druck, versuchte ihn umzudrehen – und zuckte zusammen. Das war kein Kind!
Avanya nahm wahr, wie jemand sie berührte und wusste, es war kein Nola. Solch große Hände hatte niemand aus ihrem Volk. Ihr umnebelter Verstand kämpfte hart darum, wieder zu Bewusstsein zu gelangen, doch sie war zu tief gefangen in Erschöpfung und Benommenheit.
„Thamar?“, wisperte sie schwach.
„Nye. Keir ye manmeth.“
Verwirrt dachte Avanya über diese Worte nach, dann über die tiefe weibliche Stimme, die sie gesprochen hatte. Nichts davon erkannte sie. Es klang zumindest nicht nach der Chyrsk, an die sie sich mit einem plötzlichen Schock erinnerte – war sie wirklich aus den Fängen der Trolle entkommen? Erschrocken riss sie die Augen auf und starrte unfokussiert in ein schwarzes Gesicht, das ihrem so nah war. Mit einem Aufschrei wich sie zurück, suchte hektisch nach einem Fluchtweg – hoffnungslos. Dichter Wald neben ihr, der Fluss hinter ihr.
„Korom la, korom la!“
Das klang beschwichtigend. Avanya versuchte, richtig wach zu werden und die Gestalt über sich zu erkennen.
Schwarze Haut, Flügel ...
Loy.
Wenn bloß ihr Kopf nicht so schmerzen würde!
„Niyam?“, versuchte sie den einzigen Namen, den sie im Moment mit dem Begriff Loy verbinden konnte.
„Niyam – che ta kelektam?“ Sie wurde an den Schultern gepackt und leicht durchgeschüttelt, was Avanyas Schwindelgefühl weiter verschlimmerte. Wütend kämpfte sie gegen die drohende Ohnmacht. Sollte sie denn jedes Mal zusammenbrechen, wenn sie eine neue Bekanntschaft schloss?
Roya stützte die Fremde ab, als sie stöhnend nach vorn sackte. Schimmernde Augen, erfüllt von intensivem Schmerz, starrten sie verloren an. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie nicht einfach nur träumte. Eine Nola! Das waren doch Sagengestalten, egal, was Niyam von Tunneln und Begegnungen mit diesen Wesen erzählt hatte!
Anscheinend hatte er nicht gelogen, denn die Nola hatte Niyams Namen genannt.
Zögerlich zupfte Roya an dem merkwürdigen nassen Umhang, dem einzigen Kleidungsstück der Nola. Entsetzt wehrte diese die helfenden Hände ab, ihre Finger zuckten, als wollten sie zu einem Schwert greifen. Erst jetzt erkannte Roya, dass sie kein hilfloses Opfer, sondern eine Kriegerin vor sich hatte, mit hart
gespannten Muskeln.
„Hjutruvve ba?“, fragte die Fremde leise. Roya hob mit ratloser Miene die Hände. Ob das Roensha war? Sie hätte es möglicherweise lernen sollen. Die Nola nickte erschöpft und wies dann auf sich selbst.
„Avanya.“
„Roya.“
Die beiden so unterschiedlichen Frauen lächelten einander zu, vorsichtig, weiterhin misstrauisch. Roya dachte intensiv nach. Sie konnte die Nola nicht mit zur Sippe nehmen. Legenden hin, Wahrheit her, Nola und Loy waren in den uralten Zeiten, an die nur noch Geschichten erinnerten, Feinde gewesen. Sie musste Niyam holen! Aber sie konnte Avanya nicht hier zurücklassen.
Vielleicht ...
„Avanya, warte“, sagte sie und drückte leicht gegen die Schultern der Nola, um ihre Worte zu verdeutlichen. Für gewöhnlich war ihr wandelnder Fluch nie weit entfernt. Eiven vermied es, allein in der Hütte zu bleiben, wenn sie weg war. Roya konnte es ihm nicht verdenken, der Junge war mehr als einmal überfallen und
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